Die terroristischen Anschläge seit 2015 (Charlie Hebdo, Stade de France, Bataclan-Theater, Flughafen Brüssel-Zaventem, U-Bahnhof Maalbeek, Orlando sowie zuletzt Promenade des Anglais in Nizza) gleichen sich auf eine gespenstische Art.
Die Ähnlichkeit liegt nicht in der äußeren Form der Tatbegehung; diese differiert naturgemäß, abhängig vom Täter- und Opferkreis, von den Örtlichkeiten und vom Ziel der Attentate. Was sich jedoch gleicht, das sind die öffentlichen Reaktionen, insbesondere die ritualisierte Betroffenheitsrhetorik der Politiker. Diese bekennen sich zum eigenen, »westlichen« Lebensstil, zur europäischen Wertegemeinschaft, zur grenzüberschreitenden Solidarität und zur wachsamen Kampfbereitschaft („Wir befinden uns im Krieg“). Bei genauem Hinsehen werden wir jedoch Zeugen von tiefem Unverständnis der Problematik. Wir erleben Pathos, Patriotismus und vor allem beängstigende Ratlosigkeit.
Schlimm ist, dass sich dieses Szenario in immer kürzeren Zeitabständen wiederholt. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass auch Deutschland von großen Anschlägen nicht verschont bleiben wird. Es ist nur eine Frage der Zeit. Eine kleine Vorahnung hat uns der »Axt-Attentäter« im Regionalzug nach Würzburg vor ein paar Wochen beschert.
Und was unternimmt die Politik? Sie macht das, was sie am besten kann. Sie legt die Stirn in Falten, kondoliert, beschwört, konferiert und erweckt den Anschein, dass sie handelt. Aber sie handelt nicht wirklich.
Schnellschüsse
Die Opfer von Nizza lagen noch in Planen gehüllt auf der Strandpromenade, da waren bereits die stets gleichen Fragen im öffentlichen Raum: Wo war die Polizei? Warum ist sie nicht rechtzeitig eingeschritten? Gab es kein Sicherheitskonzept? Hat man die terroristische Bedrohung unterschätzt? Gibt es Hinweise auf einen islamistischen Täterkreis? Und vor allem: Hätte das Blutbad verhindert werden können?
Die Antwort auf die letzte Frage müsste lauten: Nein, die Gefahr von terroristischen Anschlägen ist das Restrisiko unseres Lebensstils. Aber so entwaffnend ehrlich ist kein Polizeipräsident, kein Innenminister und schon gleich gar kein Regierungschef. Es wäre nämlich das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit. Stattdessen wird beteuert, man habe alles Menschenmögliche getan, um die Veranstaltungsbesucher, Bahnreisenden und Flugtouristen nach bestem Wissen zu beschützen und künftig werde man noch mehr tun: mehr Überwachungskameras, mehr Straßensperren, Sicherheitskräfte verstärken, ja sogar der Einsatz von Bürgerwehren werde geprüft. Kurzum: Terrorabwehr mit Hardware! Außerdem werde die internationale Zusammenarbeit intensiviert. Leider sei es unvermeidbar, den Datenschutz weiter einzuschränken – zu unserem Wohle. Es gelte, Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern. Doch schon Benjamin Franklin wusste, dass man bei diesem Geschäft am Ende beides verlieren wird.
Bereits wenige Stunden nach einem Terroranschlag beginnt im öffentlich-rechtlichen Infotainment-TV das Stelldichein der nimmermüden Polit-Allzweckwaffen: Altmaier, Bosbach, de Maizière, Kubicki, Oppermann bis hin zu Scheuer, Stoiber, Trittin und Wagenknecht. Erfahrene TV-Konsumenten wissen im Voraus, dass der Erkenntnisgewinn gering sein wird. Auf die immer gleichen Fragen von Anne Will & Co. folgen die immer gleichen Antworten.
Terroristische Planungen und die Antwort »war on terror«
Währenddessen bereiten junge Männer, zumeist aus dem Nahen Osten oder aus dem Maghreb, ihre nächsten Aktionen vor. Sie kennen ihr Risiko, aber es schreckt sie nicht. Sie haben keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, manche suchen ihn geradezu. Sie wollen als Märtyrer sterben, um der lustvollen Verheißungen ihrer religiösen Wahnvorstellungen teilhaftig zu werden. Die Tragik dieser jungen Männer ist, dass sie sich unmerklich von den Glaubensinhalten ihrer Religion entfernt haben – verführt und fehlgeleitet von fanatisierten Gotteskriegern.
Parallel dazu räsonieren unsere Sicherheitsexperten darüber, wie man mit scheinbar rationalen Maßnahmen (Polizeieinsatz, Schusswaffengebrauch, Überwachung, Aufklärung) den Zerstörungsphantasien von verblendeten Islamisten begegnen kann. Dabei wird übersehen, dass die Logik der künftigen Attentäter mit westlichen Denkschemata nichts gemein hat. Während wir den Anspruch erheben, bedrohtes Leben zu schützen, ist ihr Sinnen darauf gerichtet, durch hundert- und tausendfachen Mord an unschuldigen Menschen größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und flächendeckend Angst zu erzeugen.
Es scheint, dass ihr Plan in den letzten Jahren aufgegangen ist: Sie bestimmen den Takt des Todes, wir betrauern und bestatten die Opfer. Allmählich beginnen wir zu begreifen, dass es nahezu unmöglich ist, aberwitzige Terrorpläne im Vorfeld zu erkennen und ihre Ausführung zu verhindern. Welcher Analytiker hat schon die Phantasie sich vorzustellen, dass es einer Handvoll junger Männer aus dem Morgenland gelingen könnte, nahezu zeitgleich vier Passagiermaschinen in ihre Gewalt zu bringen, um mit ihnen unter Hingabe des eigenen Lebens die höchsten Türme und das Verteidigungsministerium der größten Militärmacht der Erde zu zerstören? Ein solches Szenario kommt nur in Fieberträumen vor. Oder wer kommt auf die absurde Idee, dass ein bisher unauffälliger Mann am französischen Nationalfeiertag mit einem gemieteten Lastwagen die von Feiernden gesäumte Strandpromenade in Nizza entlangfahren könnte in dem alleinigen Bestreben, möglichst viele Menschen zu überfahren?
Angesichts der offensichtlichen Schwierigkeit solche Planungen rechtzeitig zu erkennen, verfiel die westliche Politik auf die Idee, das Übel von Grund auf auszurotten. Man klassifizierte missliebige Staaten als Schurkenstaaten, erklärte sie als vogelfrei und entschied sich für den »war on terror«. Doch bald zeigte sich, dass man terroristische Aktionen nicht mit konventionellen Kriegen bekämpfen kann. Zu groß sind die Unterschiede. Der klassische Krieg ist dadurch gekennzeichnet, dass Staaten ihre Konflikte mittels Armeen und Feldherrn auf Schlachtfeldern austragen. Terroristische Aktionen hingegen werden jedoch nicht von Armeen, sondern von im Untergrund operierenden Kommandos ausgeführt. Nicht Materialschlachten und die Eroberung von Feindesland stehen im Vordergrund, sondern die zynische Absicht, mittels massenhafter Tötung Unschuldiger weltweit Aufmerksamkeit zu erlangen und dadurch psychischen Druck auf den militärisch hoch überlegenen Feind aufzubauen. Während Soldaten überleben wollen, benützt der »moderne« Terrorist sein eigenes Leben als Waffe. Für solche Auseinandersetzungen (»asymmetrische Kriege«) eignen sich Soldatenheere und Militärtechnologie nicht, weder zur Vorbeugung noch zur Abwehr von Übergriffen.
Irrweg
Die asymmetrischen Kriege haben zudem eine schlimme Nebenwirkung: Sie erzeugen neuen blutigen Terror. Die Erfahrungen der letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass der »war on terror« häufig zum Terror gegen die Zivilbevölkerung mutiert. Präsident Barack Obama hat kürzlich eingeräumt, dass seit 2009 bei US-Drohnen-Einsätzen in Pakistan, Jemen, Somalia und Libyen zwischen 64 und 116 unschuldige Zivilisten getötet wurden (sog. Kollateralschäden). Andere Quellen sprechen von 1147 Opfern (The Guardian), Menschenrechtsorganisationen sogar von etwa 6000. Es bedarf wenig Phantasie sich vorzustellen, dass Angehörige und Freunde von unschuldigen Drohnen- oder Bombenopfern leicht für Vergeltungsaktionen (»Terroranschläge«) zu gewinnen sind. Der Journalist und ehemalige CDU-Abgeordnete Jürgen Todenhöfer sagte kürzlich in einem Gespräch mit WDR2: „Wir haben jetzt 14 Jahre lang »Krieg gegen den Terror« geführt. Am Anfang hatten wir ein paar hundert international gefährliche Terroristen, jetzt haben wir über 100.000.“ Auch wenn diese Zahl nicht genau überprüfbar ist, zeigt sie eine gefährliche Tendenz auf. Wir befinden uns auf einem Irrweg. So werden wir es nicht schaffen.
Wir müssen umdenken.
Wenn wir Terrorismus ernsthaft eindämmen wollen, kommen wir nicht umhin, neue Wege zu beschreiten. Sie bieten eine weitaus bessere Zukunftschance als das phantasielose Weiterlaufen auf falschen Wegen. Prinzip Hoffnung.
Es gibt allerdings keine Garantie, dass die Kursänderung geradlinig und schnell zum Ziel führt. Unsere Geduld wird gefragt sein und Rückschläge werden nicht ausbleiben. Diese Einschränkung gilt jedoch für die bisherige Sicherheitsdoktrin erst recht. Das wuchernde Krebsgeschwür des Terrorismus beweist es jeden Tag aufs Neue. Wir müssen umdenken.
Unser bisheriges Denken geht in die falsche Richtung. Die alte gescheiterte Politik fragt immer: Wie kann man geplante Attentate im Voraus erkennen? Mit welchen Mitteln kann man Terroristen unschädlich machen? Welche Sicherheitsmaßnahmen sind zu verstärken? Das ist zu wenig! Mehr Soldaten, mehr Polizisten und mehr Überwachung sind eine unzureichende Antwort. Natürlich ist Präventionsdenken vonnöten, aber genau genommen setzt es zu spät an. Wenn ein junger Mann erst mal zum Terroristen geworden ist, ist die Schlacht fast schon verloren. Richtigerweise sollte also gefragt werden: Was kann man tun, damit junge Männer gar nicht erst zu Terroristen werden? Wie kann man den Sumpf austrocknen, auf dem Terrorismus gedeiht?
Erforderlich ist ein schonungsloser Blick auf die Hintergründe des Terrorismus, auch auf eigene Fehler der Vergangenheit. Die »Fehlersuche« erfordert große Offenheit und die Bereitschaft, eigenes Fehlverhalten einzuräumen. Das ist kein Selbstläufer. Denn im Wortschatz der Mächtigen stehen Reflexion, Empathie, Verständigungswille, Ausgleich sowie Konfliktforschung nicht an oberster Stelle.
1 Kommentar
Mit „blauäugig“ kann nur die Farbe Ihrer Augen gemeint sein.