Vergeblicher Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln
In der letzten OHA-Ausgabe sahen wir uns außer Stande, den im Entwurf des bayerischen Integrationsgesetzes in den Mittelpunkt gestellten Begriff »Leitkultur« auf die Schnelle zu definieren, weil wir uns dabei vorkamen, als wollten wir einen Pudding an die Wand nageln. Gleichzeitig versprachen wir aber, uns die Zeit für einen Versuch zu nehmen, eben diesen Pudding doch noch in den Griff zu bekommen.
Aber der Reihe nach: Im Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein Bayerisches Integrationsgesetz (Drucksache 17/11362 vom 5. Mai 2016) lautet der erste Satz, „Die Würde des Menschen, die Freiheit der Person, die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen und das Recht jedes Einzelnen auf ein selbstbestimmtes, aber auch selbstverantwortliches Leben sind als Frucht der Aufklärung tragende Grundlage unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung.“ Dieser Leitsatz prägt unser Grundgesetz und unser gesamtes Rechtssystem, und es ist aus meiner Sicht völlig in Ordnung, Migranten wie Ur-Deutsche gleichermaßen auf die „unabdingbare Achtung“ dieses deutschen bzw. europäischen Leitbilds einer modernen Gesellschaft zu verpflichten. Eine Leitkultur nach diesem Verständnis ließe sich nicht nur mühelos an die Wand nageln, sondern sogar in Stein meißeln. Leider aber steht in der Präambel des Entwurfs ein paar Sätze weiter: „Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen, diese schaffen die identitätsbildende Prägung unseres Landes (Leitkultur)“. Und: Migranten sind „im Rahmen ihres Gastrechts zur unabdingbaren Achtung der Leitkultur verpflichtet“.
Im Klartext: »Leitkultur« ist nach Auffassung der CSU gleichbedeutend mit der „identitätsbildenden Prägung“ durch gewachsenes bayerisches Brauchtum, d. h. Sitten und Traditionen! Wer sich diesen nicht verpflichtet fühlt und anpasst, verliert jegliche Ansprüche (er bzw. sie ist ja »nur« Gast und muss das Haus verlassen, oder zumindest Strafe zahlen.) Da waren die muslimischen Herrscher früherer Jahrhunderte gegenüber ihren jüdischen und christlichen »Schutzbefohlenen« wesentlich toleranter! Und die »Leitkultur« fällt mir das erste Mal als Wackelpudding von der Wand platschend vor die Füße …
Denn: Gilt die bayerische Leitkultur auch für Biodeutsche, die nicht beim Trachtenverein mitmachen, für Münchner, die vor dem Oktoberfest in den Kurzurlaub flüchten, anstatt im Bierzelt zu sitzen und „Oans, zwoa, gsuffa!“ zu singen? Offenbar gilt: Was für die AfD Istanbul ist, ist für die CSU Berlin oder Hamburg. Der rheinische Karneval ist für den Kölner wichtiges Element der „identitätsbildenden Prägung“, für viele Deutsche aus anderen Landesteilen dagegen ein Graus; in Bayern sagt man (wenn auch keineswegs immer und überall) „Grüß Gott“, in Hamburg „Moin-Moin“, in ganz Deutschland aber schlicht auf Neudeutsch „Hallo“ oder auch nur „Hi“… Es gibt also in Wahrheit viele »Leitkulturen« in Deutschland, der arme Migrant müsste sich demnach stets neu anpassen, wenn er innerhalb Deutschlands umzieht. Zur Kultur gehört zweifellos auch das Essen: Schweinsbraten und Blaukraut ist bayerische Tradition – aber selbst so mancher Ur-Bayer isst heute auch gerne Pizza. Gehört die – wo es selbst in jeder Kleinstadt inzwischen eine Pizzeria gibt – schon zur »Leitkultur«, der Döner aber (noch) nicht? Und wie ist das eigentlich mit Halloween und Valentinstag oder darf künftig nur noch der deutsche (von den Nazis propagierte) Muttertag begangen werden? Und was ist mit der Musik? Wo doch selbst »Bayern 1« keine bayerische Blasmusik mehr bringt! Das wird die bayerische Staatsregierung allerdings ändern: In Art. 10 des Integrationsgesetzes werden die Medien per Sollvorschrift auf die Leitkultur verpflichtet!
Oh je, der Wackelpudding will einfach nicht an der Wand kleben bleiben!
»Leitkultur« im Sinne des bayerischen Integrationsgesetzes weist darüber hinaus auch noch auf die Veränderungen des Begriffs im Wandel der Zeiten hin: Da heißt es u. a., dass „Kinder lernen sollen, sich … durch die allgemein übliche Mimik und Körpersprache auszudrücken“. Was aber ist „allgemein üblich“? Ich vermute, dass man z. B. Zustimmung durch Kopfnicken, Ablehnung durch Schütteln des Kopfes ausdrücken soll; dass man sich die Hand gibt zur Begrüßung, keinen Stinkefinger zeigt – Sigmar Gabriel kriegt Hausverbot! Das geht in Richtung »Benimm-Regeln«, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts im berühmten »Knigge« – immer wieder angepasst an den jeweiligen Zeitgeist – den Menschen vorgeschrieben haben, wie sie miteinander umgehen sollen: „Der Herr hält der Dame die Türe auf …, ein Kind überlässt dem Erwachsenen seinen Sitzplatz in der Tram, der Knabe macht einen Diener, das Mädchen einen Knicks usw.“, worüber wir heute nur noch verständnislos den Kopf schütteln (obwohl dies doch noch zu meiner Kindheit unumstößliche Regeln waren). Geht es nach dem geplanten Integrationsgesetz, bedeutet dies de facto, dass Migranten in Bayern künftig nicht nur auf die bayerische Verfassung, sondern auch auf die neueste Version des »Knigge« verpflichtet werden. Ob dort z. B. steht, dass es zur identitätsbildenden Prägung in Deutschland gehört, dass jede(r) beim gemeinsamen Essen im Restaurant aufs eigene Smartphone starrt, chattet, spielt und telefoniert? Benimmregeln also als Wesenselement der »Leitkultur«? Ich fürchte, da fällt so mancher Biodeutsche mit Pauken und Trompeten durch die Integrations-Prüfung, und ich bin immer mehr gestresst beim Versuch, den Wackelpudding an die Wand zu nageln! Denn wer weiß schon, wie in 20 Jahren die Benimmregeln – und damit die »Leitkultur« – aussehen werden?
Und während ich noch darüber nachdenke, warum es verwerflich sein soll, z. B. bei der Begrüßung sich nicht nach guter alter deutscher, Grippe-verbreitender Art die Hand zu geben, sondern eine freundliche Verbeugung zu machen (wie in Ostasien), oder die rechte Hand aufs eigene Herz zu legen (wie im arabischen Raum), kommt mir ein Verdacht: Der vermeintliche Wackelpudding ist gar kein Wackelpudding, sondern es steckt hinter dem Begriff »Leitkultur« in Wahrheit der heuchlerische – der dem Integrationsgesetz verpflichtete Bayer würde ordnungsgemäß sagen: „hinterfotzige“ – Versuch, alles Fremde auszugrenzen und im Althergebrachten etwas Halt in einer bedrohlich gewordenen Welt zu suchen!
Da tun sich plötzlich ganz neue Aspekte und Einsichten auf, denen ich im nächsten OHA nachgehen werde.
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