Wandelprediger

Personen: die Studentinnen Caro Hagen und Susanne Breuer im Zug nach München

C: Du, ich bin inzwischen der Meinung, dass all die Protestbewegungen auf Seiten der Jugend, die den Erhalt unserer Lebensgrundlagen als Ziel haben, keinen Erfolg haben können, solange die großen Befürworter einer umweltfreundlichen Lebensweise nicht selbst entsprechend leben.

S: Du denkst dabei wohl an die führenden Grünen, an die Mitglieder vom Club of Rome, an die den Wandel predigenden Wissenschaftler in aller Welt, und vermutlich auch an eine nicht geringe Anzahl von Religionsoberen.

C: Ja, Susanne, genau diese Menschen mit zwei Gesichtern habe ich dabei im Auge.

S: Du, Caro, diese Menschen leben in einer Zwickmühle. Sie leben in der Gegenwart, der sie nicht ausweichen können, haben aber erkannt, dass diese Gegenwart enorm übelbehaftet ist.

C: Und deshalb, Susanne, fürchte ich, dass die Menschheit den notwendigen Wandel nicht schaffen wird, denn diese Zeitgenossen sind das alles entscheidende Zünglein an der Waage. Sie sind ein großes, die ganze Welt umfassendes Heer, das zwar erkannt hat, dass ein Wandel sein muss, aber selbst nicht entsprechend lebt. Sie entfalten somit keine Vorbildwirkung, können deshalb auch niemand zum Wandel bewegen und leisten noch dazu auch keinen aktiven Beitrag zum Abbau unserer Umweltprobleme.

S: Caro, ich fürchte, du hast da etwas ganz Entscheidendes erkannt – was allerdings nur den Schluss zulässt, dass die Menschheit nicht zu retten ist.

C: Das muss man befürchten.

S: Du, für mich ist diese Sichtweise völlig neu, und deshalb fällt mir im Moment absolut nichts ein, was uns aus dieser Klemme heraushelfen könnte.

C: Mir bisher auch nicht. Mich hat dieser Gedanke während der Sylvester-Party bei meiner Freundin Sarah überfallen und seitdem werde ich ihn nicht mehr los. Er verfolgt mich wie ein böser Geist, und ich hoffe jetzt nur, dass von irgendwo her ein Engel kommt, der ihn vertreibt.

S: Herrgott, Caro, in dir hat sich dieser Gedankengang offenbar zu einem regelrechten Drama aufgebaut, nur zu Recht allerdings, weil die nächsten Dekaden vermutlich ziemlich dramatisch ablaufen werden.

C: Gott sei Dank hat sich das Hoffen auf einen Engel in mir inzwischen genau so festgesetzt wie der böse Geist, und so schaue ich heute etwas entspannter in die Zukunft als noch vor ein paar Wochen.

S: Du, Caro, könnte dieser Engel am Ende gar unsere Jugend sein, die den Wandel nicht nur energisch fordert, sondern auch leben will, was sie inzwischen auch ganz verbreitet beweist.

C: (nachdem sie eine Weile sinnend auf die vorbeifliegende Landschaft geschaut hatte) Du, Susanne, das wäre ja total verrückt, denn vorhin hatte ich ja noch gemeint, dass unsere Jugend wirkungslos bleiben wird, und jetzt meinst du, dass ausgerechnet sie den notwendigen Wandel herbeiführen könnte, den Wandel, den das Heer der Prediger wegen seiner starren Eingebundenheit in die Gegenwart nicht auslösen kann.

S: Das find ich gar nicht so verrückt, Caro. Denn die Wandelprediger sind ja nicht nur verstrickt in unsere übelbehaftete Gegenwart, sondern haben auch den Elan und Unternehmensgeist ihrer Jugendjahre verloren.

C: Herrgott, Susanne, am Ende wäre es aber schon ziemlich verrückt, wenn aus dem Schatten des Engels demnächst die weltweite Jugend heraustreten würde.

Guggera

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