Mein »vorerst« letztes Stück!
Im vorerst letzten Stück aus Haiti muss ich zunächst eine Präposition richtig stellen. Dieses Mal müsste die Überschrift eigentlich Stück »über« und nicht »aus« Haiti lauten, denn ich bin wieder zurückgekehrt. Das erklärt auch den Zusatz »vorerst« letztes Stück. Nach drei intensiven und spannenden, aber auch sehr anstrengenden und ermüdenden Jahren wollte ich meinen Vertrag nicht noch einmal verlängern.
Zu meinem Abschied habe ich auch eine solch hübsche Tafel erhalten, ehren- und verdiensthalber als Geschenk »meiner« Bauernorganisation. Im Bild Andreus Pierre, einer unserer Musterbauern. Er bat mich, ihn mit seinem »Verdienstorden« abzulichten und das Foto in Deutschland zu zeigen.
Externe Unterstützung für Haiti weiterhin nötig
„Hat‘s denn was geholfen?“, werde ich öfter gefragt. Ja, kann ich ohne Zweifel antworten. Doch wer verbunden mit dieser Frage erwartet, dass die Hilfe für das Land bald eingestellt werden kann, dem sage ich: „Nein, das glaube ich nicht.“ Haiti wird weiter und langfristig auf externe Unterstützung angewiesen sein. Manchmal vergleiche ich das Land auch mit Menschen hierzulande, die langfristig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, weil sie aufgrund verschiedener Einschränkungen ihr Leben nicht ohne fremde Hilfe meistern.
Da ich mit Sprache und Kultur jetzt einigermaßen vertraut bin, kann es sein, dass ich nicht das letzte Mal in Haiti war. Doch das muss sich erweisen und hängt natürlich auch davon ab, welche beruflichen Perspektiven sich für mich hier künftig bieten. Was ich gerne machen würde? Entwicklungshilfe in einem so netten Land wie Deutschland, scherze ich manchmal. Doch wo alles schon funktioniert und geregelt ist, sind so frei gestaltbare und spannende Aufgaben, in der verschiedenste Menschen an Veränderungen zusammen arbeiten, recht rar. Dafür noch einmal ohne Stundenlimit und oft das Wochenende durcharbeiten, doch, dazu wäre ich wieder bereit.
Zur Erinnerung: Ich bin vor drei Jahren nicht infolge der Erdbebenkatastrophe von 2010 in das ärmste Land Lateinamerikas gegangen, sondern im Rahmen eines bereits vorher begonnenen und nach meinem Einsatz auch noch weiter laufenden Entwicklungshilfeprojekts. Meine letzten Aktivitäten waren eine Pilotmaßnahme zur Anlage von individuellen, privaten Kleinstaufforstungen, die Ausbildung und Bezahlung einer Brigade zur flächendeckenden Veredlung der Avocadobäume sowie ein Programm zur Durchführung von Umweltbildungsmaßnahmen im jetzt zum Nationalpark erklärten Schutzgebiet. Ich habe die Maßnahmen geplant, die Durchführung begonnen und bei meiner Abreise einigermaßen gut an Kollegen übergeben können. Das ist im projektgeprägten Umfeld der Entwicklungshilfe eher die Ausnahme als die Regel. Auch eher selten sind Finanzierungen derselben Ziele von mehr als zehn Jahren. Auch das war in meinem Projekt ein Glücksfall. Meine Ende 2013 angestoßenen Beiträge haben dank der langfristigen schweizerischen Finanzierung jetzt noch drei Jahre Zeit, sich zu verfestigen. Gut so! Denn Entwicklung will und muss, um dauerhaft zu sein, auch mentale Veränderungen bewirken, und das braucht – jeder weiß das von sich selbst – viel Zeit.
Ein Vergleich aus Deutschland zum Zeitbedarf von mentalen Veränderungen: wie viele Jahre hat es gedauert, bis eine Mehrheit der deutschen Autoinsassen den Sicherheitsgurt benutzt hat? Erinnern Sie sich an die Phasen? Wann begann man mit dem Einbauen von Gurten in die Autos? In meiner Kindheit gab es noch Automodelle ohne Gurt. Und wie lange währte die sogenannte »Sensibilisierung«, also die Aufklärung über Folgen des Fehlverhaltens und eine moralischer Appell an eine Verhaltensänderung. Es folgte schließlich ein Gesetz und nach und nach die ersten, zu Beginn noch hinnehmbaren Bußgelder. Dann immer schmerzhaftere Bußgelder neben weiterhin flächendeckenden Polizeikontrollen. Die letzten Autofahrer werden erst heute mit Hilfe drakonischer Strafen »überzeugt«, ihr Verhalten zu ändern.
Die Sensibilisierungsphase der Bevölkerung im und um den »Forêt des Pins« ist weit gediehen. Die Gesetze zum Waldschutz sind auch da, zudem ermöglicht die kürzliche Ernennung zum Nationalpark noch rigorosere Regeln. Doch deren Durchsetzung, also die Kontrolle des Gebiets und die Verhängung von Sanktionen, lässt – immer noch – zu wünschen übrig. Die 2009 begonnenen Versuche, eine Forstwacht einzurichten, wurden und werden vom haitianischen Staat nur verbal angenommen. Das heißt, die ernannten und eingesetzten Guards werden noch immer von Projektgeldern der Entwicklungshilfe und nicht vom Staat bezahlt. Steht offenbar nicht auf der Prioritätenliste für das zugegeben knappe Staatsbudget. Dass der Präsident populistischere Maßnahmen vorzieht oder Dinge, die stärker seine Freunde begünstigen, vermute ich hier nur.
Dennoch ist es nicht so, dass sich in Haiti nichts zum Besseren verändert hat. Die Spuren des Erdbebens von 2010 sind kaum noch sichtbar. Auch was einige Entwicklungsindikatoren betrifft, gibt es leichte Fortschritte. Doch global gesehen, entwickeln sich auch die reicheren Länder weiter, und dies oft schneller als unterentwickelte Länder. Auch ein Grund, warum ich Haiti langfristig weiteren Unterstützungsbedarf zuspreche.
Weitere Entwicklungshemmnisse sind: Eine niemals aufgearbeitete oder therapierte Erfahrung der Unterdrückung. Zuerst die der Sklavenhalter, dann durch einer Reihe verschiedener mehr oder weniger despotischer Herrscher. Der hoffentlich vorläufig vorletzte in der Reihe, Jean Claude Duvalier – im Volksmund »Babydoc« – ist am 4. Oktober gestorben. Es gab nicht wenige Stimmen, allen voran Präsident Martelly, die ihm ein Staatsbegräbnis zukommen lassen wollten.
Eifersucht, Scheinheiligkeit und Lüge sind auffällig häufig benutzte Wörter sowohl in der Politik wie auch allgemein in der haitianischen Sprache. Das spiegelt meiner Meinung nach wieder, dass die Menschen wenig Vertrauen untereinander haben und noch weniger, wenn es um sogenannte »Blancs« geht – ein Begriff nicht nur für Weiße, sondern für alle Angehörige der herrschenden Schicht.
Die Überbevölkerung mit anhaltendem Bevölkerungswachstum, verbunden mit sehr ungünstigen landwirtschaftlichen Bedingungen (steile abgeholzte Berge, erosionsgeplagte Böden), bremst die Entwicklung hin zu einer autarken Nahrungsmittelversorgung. Alle Versuche unseres Projekts, die Ernährungs- und Einkommenssituation der lokalen Bevölkerung zu verbessern, dürften konterkariert werden dadurch, dass die übernutzten Böden in 30 Jahren doppelt so viele Menschen zu ernähren haben.
Gebildete Haitianier wandern oft ab
Auf der Insel besteht ein kontinuierlicher »Brain-Drain«. Viele, die in puncto Bildung und Einkommen vorangekommen sind oder dies wollen, wandern ab. Heute tun sie das mehr oder weniger freiwillig, zur Geburtsstunde des haitianischen Staats, die eine Revolte der unterdrückten Sklavenarbeiter war, geschah das durch die Ermordung oder Vertreibung der Mehrheit der mehr oder weniger gebildeten Bourgeoisie.
Während meiner Zeit haben drei meiner zwölf direkten haitianischen Teamkollegen ihre Familien nach Kanada übersiedelt, weil die Rechnung aus Miete plus Schulgebühren dort günstiger ausfällt und die Schulen zudem besser sind – eine Frage der Zeit, wann sie selbst nachziehen. Damit kommt ihre vergleichsweise gute Ausbildung künftig Kanada zugute.
Ressourcenknappheit
Haiti hat keine nennenswerten Bodenschätze, seine Energieversorgung ist jetzt schon beinahe völlig von den Öllieferungen aus Venezuela abhängig. Ob der hohe Schuldenstand die Ursache ist, dass die Tankschiffe zuweilen zu spät eintreffen, weiß ich nicht, aber denkbar ist das. Wenn das Land vorwärts kommen will, dann geschieht das sicher nicht bei geringer werdendem Ressourcenverbrauch.
All diese Punkte habe ich angeführt, um am Ende noch einmal zurückzukommen zu der Frage: „Hat‘s denn was geholfen?“ Ja, lautet mein Fazit. Ja, als Tropfen auf den heißen Stein. Gut, dass ich nicht mehr erwartet hatte.
Carola Dempfle
Neueste Kommentare