Soziale Dreigliederung

Die soziale Frage

Mehr und mehr werden wir heute gewahr, dass die technikgeprägte Zivilisation nicht nur neue Möglichkeiten des Lebens und Handelns eröffnet. Sie wirkt auch schädigend, ja krankmachend auf dieses Leben zurück.

Wir haben die Organisation der Gesellschaft auf Gruppeninteressen aufgebaut. Denen gehören die betreffenden Menschen an. Wir fixieren unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf das eigene Wohlergehen, die eigenen Angelegenheiten, die Karriere oder die unserer Gruppe. Dass diese Nötigung, in allen Bereichen des Lebens zuerst an uns selbst zu denken, uns lähmt, wird uns nicht einmal bewusst. Die Ohnmacht, uns wirklich auf die jeweils vorliegende soziale Gesamtsituation unbefangen einzustellen, macht es uns unmöglich, diese selbst einzugestehen. Wir sind noch in alten Denkmustern befangen.

Der Geist der Arbeitsteilung

In der Arbeitsteilung unseres gesamten Wirtschaftens müssen wir unsere produzierten Leistungen oder Waren weitergeben, wenn die Sache einen Sinn haben soll. Alles was wir produzieren, übersteigt bei weitem den Eigenbedarf. Wir versorgen die anderen, jeder von uns ist Fremdversorger.

In unserem Denken sind wir immer noch eine Gesellschaft von Selbstversorgern. Unser Gruppenegoismus, der Konkurrenzkampf Arbeitgeber gegen Gewerkschaften, politische Parteien gegen andere Parteien, Unternehmen gegen die Konkurrenz, Kunden gegen Unternehmen, Staat gegen Bürger, privatkapitalistische Länder gegen staatskapitalistische Länder, Industrienationen gegen Rohstoffländer, Nord- gegen Südhalbkugel macht dies deutlich.

Das Denken ist insofern noch bei den Zeiten unserer als Bauern, Jäger und Fischer lebenden Vorfahren stehengeblieben. Sie sorgten für sich selbst, für ihre Gruppe. Sie waren noch Selbstversorger.

Die Fremdversorgergesellschaft
Wenn wir den Gedanken der durch die notwendige Arbeitsteilung entstandenen Fremdversorgergesellschaft zu Ende denken, kommen wir zu einem uns sehr leicht verunsichernden Ergebnis. Es besagt: Jeder muss das Ergebnis seiner Arbeit möglichst ohne Rest an andere Menschen weitergeben. Seine eigenen Bedürfnisse muss er soweit als möglich aus den Arbeitsergebnissen der anderen befriedigen.
Unser Streben gilt doch meist dem Kampf um die Gehaltserhöhung, der Anbetung des Erfolges: Der Stärkere überlebt und verfällt leicht dem Machtrausch, in dem jedes Mitgefühl für den Unterlegenen erstirbt.
Appelle, sich dem Guten zuzuwenden, gehen an der Realität vorbei. Die Wirklichkeit lässt dem Einzelnen keine Wahl.
Die Ordnung der sozialen Verhältnisse muss dem bereits technisch organisierten Schritt der Fremdversorgergesellschaft nachfolgen. Rudolf Steiner hat die Bedingungen 1906 bereits formuliert.

Das soziale Hauptgesetz

Das Heil einer Gesamtheit von zusammen arbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht. Das heißt,
je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen eigenen Leistungen, sondern aus den Leistungen er anderen befriedigt werden.

Dieses »Nicht beanspruchen der eigenen Leistungen« und noch mehr das »Abgeben der Erträgnisse« befremden uns.

Wir arbeiten doch für unseren Ertrag, oder nicht? Wir kennen zwar schon einen Messwert für unsere Gemeinschaftsleistungen, das Bruttosozialprodukt. Je mehr hier der Einzelne seine Erträgnisse einbringt, »abgibt«, desto höher sind die zu verteilenden Werte der Gesamtheit.

Die Gliederung der Menschennatur

Diese unsere Natur können wir im alltäglichen Leben auf unterschiedliche Weise erleben:

das bedürfende Wesen
Wo Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zur Deckung ihres Bedarfs aufeinander angewiesen sind, treten sie sich als bedürfende Wesen gegenüber. Das Bedürfnis entspringt einem ganz besonderen, einmaligen Wunsch aus dem Geist des jeweiligen Menschen. Es zeigt sich als Kreativität in Forschung, Kunst, Erziehung und Religion.

das mündige Wesen
Wo wir Vereinbarungen über Rechte und Pflichten treffen, begegnen sich die Partner als mündige Wesen. Gemeint ist hier allgemein die Vertragsfähigkeit, getroffene Vereinbarungen einzuhalten. Im Rechtsstaat werden z. B. Grundrechte festgelegt, Persönlichkeitsrechte geschützt, die Nutzung des Bodens oder der Produktionsmittel geregelt. Dies ist Aufgabe der Politik.

das fähige Wesen
Im Wirtschaftsleben bringen wir unsere Fähigkeiten als fähiges Wesen ein. Mit dem Sachverstand des Berufstätigen bearbeiten wir die Natur und schaffen für uns alle als Konsumenten die materielle Existenzgrundlage.

Die drei Glieder sozialen Wirkens
Diese Dreigliederung unseres sozialen Wirkens gilt uneingeschränkt für alle menschlichen Aktivitäten. Sie ist keine gedankliche Konstruktion, sondern ein dauernd wirkendes Prinzip. Jeder Mensch ist gefordert, das richtige Empfinden dafür zu entwickeln.

Eine Unterstützung in der Jugend hin zum kreativen Menschen lässt ihn später aus einem gesunden Geist heraus, mündig seinen Mitmenschen verpflichtet, die Wirtschaft beflügeln, indem er z. B. ermöglicht, die Arbeit rationeller zu gestalten.

Passives soziales Verhalten
Als Konsument versuchen wir aktiv, unsere Vorteile zu nützen. Wir wenden uns dem günstigsten Anbieter zu. Die Zuwendung zum Anderen geschieht hier nicht um seiner Willen, sondern nur um der äußeren Umstände willen. Bietet jemand anders günstiger an, verlassen wir den bisherigen Anbieter. Dies ist eine getriebene, eine passive Zuwendung.

Antisozialität
Um sich selbst zu entwickeln, muss sich der Mensch in gewissen Zeiten von anderen zurückziehen. Nur in der Trennung von der Gemeinschaft kann er sich selbst erkennen. Im Tun für andere aber werden wir sozial, entwickeln Sozialität.
Das Gegenteil, nur für sich selber etwas zu tun, nannte R. Steiner Antisozialität.

Aktive Sozialität
Die heute verbreitete passive Sozialität wird z. B. erzwungen durch Gewinnmaximierung von Monopolen, durch Machtentfaltung von Polizei oder Eigentum, durch Fremdbestimmung aus der Werbung oder in der Arbeit. Der heutige Leidensdruck, der alle Menschen in der Zerstörung allen gesellschaftlichen Lebens gleichermaßen berührt, drängt auf aktive Hinwendung zum anderen Menschen, zur aktiven Sozialität.

Brüderlichkeit, Gleichheit, Freiheit
Als Bedürfender wird unserem Wunsch nach einer Ware sicher mehr Rechnung getragen, wenn wir gut beraten, nicht aber »über’s Ohr gehauen« werden.
Für einen mündigen Bürger ist eine Vereinbarung im Leben tragfähiger, wenn sie einvernehmlich, nicht aber über seinen Kopf hinweg getroffen wird.
Als Fähiger bringen wir mehr, wenn wir selber entscheiden dürfen, wie wir eine Aufgabe anpacken wollen, nicht dauernd an Weisungen anderer gebunden sind.

Die sich entfaltende Form aktiver Sozialität

  • gegenüber dem Bedarfswesen anderer Menschen kann man als ein Streben nach Freiheit,
  • die gegenüber dem mündigen Wesen als ein Streben nach Gleichheit und
  • gegenüber dem fähigen Wesen als ein Streben nach Brüderlichkeit bezeichnen.

Verlust der sozialen Kräfte

Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit beziehen sich jeweils durch sich selbst nur auf eine Seite der dreifältigen Menschennatur. Obwohl sie sich gegenseitig beeinflussen, dürfen sie nicht miteinander gekoppelt werden. Sonst behindern sie sich gegenseitig, ziehen sich auf ein handlungsunfähiges Niveau.

Das passiert aber bei manipulativen Vorgängen. Sie koppeln z. B.:

  • 
als Wirtschaftsreklame die fähigen und bedürfenden Kräfte im Menschen,

  • als Meinungspropaganda die geistigen und die mündigen Kräfte, und

  • als Weisungsabhängigkeit die mündigen und fähigen Kräfte im Menschen.

Machtausübung wirkt ebenso auf Vorgänge der Bedarfsbefriedigung und der Zusammenarbeit wie auf solche der Vereinbarung und so weiter. Ihre gesellschaftsgestaltende Wirkung ist daher keine gliedernde sondern durch die Koppelung eine gleichmachende.

Die Evolution, die Entwicklung zu immer mehr Eleganz in der Anpassung an die vorhandenen Möglichkeiten, hat in immer mehr Vielfalt eine überlebensfähige, gliedernde Differenzierung vorangetrieben. Der Einheitsstaat, der heute nahezu alles kulturell, rechtlich und große Teile des wirtschaftlichen Lebens mehr oder weniger beherrscht, ist ein nahezu vollkommener Ausdruck der falschen Tendenz.

So kann das soziale Hauptgesetz folgendermaßen formuliert werden:

Je mehr in einer gesellschaftlichen Gesamtheit aus Interesse am anderen Menschen alle Bedarfsbefriedigung brüderlich, alle Vereinbarungen im Sinne der Gleichheit und alle Zusammenarbeit freiheitlich gestaltet und verwaltet werden, umso mehr entsteht eine dreigliedrig-differenzierte Gesellschaftsstruktur.

Je mehr dies aus Interesse an sich selbst im Sinne von Fremdbestimmung, Machtausübung und Gewinnmaximierung gestaltet und verwaltet wird, umso mehr tendiert die Gesamtheit zu einem gleichförmig zentralistischen Gesellschaftssystem.

Sozial erfinderisch werden
Als gesellschaftliche Formen der Dreigliederung nannte Rudolf Steiner die Form des

  • Strebens nach Freiheit des Bedürfenden in uns im Geistesleben: Korporationen
  • Strebens nach Gleichheit des Mündigen im Rechtsleben: Staaten oder Demokratien
  • Strebens nach Brüderlichkeit des Fähigen im Wirtschaftsleben: Assoziationen

Je mehr sich Menschen also in diesem Sinne verhalten, umso intensiver entwickelt sich eine dreigliederig-differenzierte überlebensfähige Gesellschaftsstruktur. Je mehr Fremdbestimmung, Machtausübung und Gewinnmaximierung überhand nehmen, umso stärker verengt sich diese Gesamtheit zu einem einförmig zentralistischen System.

Dieses Gesetz gilt wie ein Naturgesetze des physikalischen Bereiches, nur dass wir das Verhalten selber hervorbringen müssen.

Arbeitslosigkeit

Der Begriff Arbeitslosigkeit beinhaltet in Wirklichkeit drei Tatbestände:

Arbeit hätten wir sicher genug zu verteilen. Sie sollte von dem fähigsten Menschen in freier Entscheidung erledigt werden.

Einkommenslosigkeit: Niemand ist in dem Fall bereit, für eine Arbeitserledigung zu zahlen. Wir verbinden heute immer noch, aufbauend auf unsere früheren Jäger/Sammler-Erfahrungen, Arbeit mit Einkommen. Selbstverständlich muss die Gemeinschaft ihr Sozialprodukt erarbeiten, um es dann verteilen zu können. Nach welchen Gesichtspunkten dies verteilt wird, muss unter den bedürfenden Menschen brüderlich vereinbart werden. Es darf von keinem anderen Teil der Dreigliederung abhängig gemacht werden.

Das Dritte ist die Vertragslosigkeit: Erst durch die Kündigung des Vertrages entstehen die beiden anderen Probleme. Lösungen müssen von der mündigen Gesamtheit im Sinne einer demokratisch weiterentwickelten Gleichheit gesucht werden.

Gewinn und Verlust
Gewinne entstehen überall dort, wo im Wirtschaftsleben ein Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung besteht. Die Gewinne werden heute zum Teil in unproduktiven Bereichen für Boden-, Devisen- oder Wertpapierspekulationen zurückgehalten. Dadurch entsteht auch schleichende Inflation. Geld wird als Ware mit den höchsten Handelsspannen von mehreren 100% gehandelt. Es darf aber nur ein Mittel zum Austausch von Waren und Leistungen sein. Die Assoziation müsste entsprechende Einrichtungen und Maßnahmen zum Ausgleich schaffen. Auf demokratischem Weg wären entsprechende Gesetzesänderungen im Bodenrecht, Erbrecht und Gesellschaftsrecht zu beschließen.

Geldwert
Eine assoziative Gesellschaftsgestaltung sieht den zu erzielenden Gewinn allein in den finanziellen Mitteln, die zur Fortführung des Lebens mit dem jeweils vorhandenen Bedarf nötig sind.

Überschüsse sollten als »Schenkungsgeld« dorthin zurückfließen, von wo sie ausgelöst wurden, an die Geisteswissenschaften. Darunter sind neben Kunst und Religion natürlich auch Forschung, Wissenschaft, Erziehung, Universitäten und Rechtssprechung zu verstehen.

Als »Kaufgeld« verwandelt sich das »Schenkungsgeld«, wenn es dem Lebensunterhalt oder Investitionen dient. »Leihgeld« kann zur Förderung fähiger Unternehmer dienen.

Anstelle eines Tarifvertrages
Die bisher vereinbarten Verträge, wonach für Arbeit Bezahlung gewährt wird, betreffen nur 40% der Bevölkerung. Hausfrauen, Kinder, Jugendliche, kranke, arbeitslose und alte Menschen erhalten sie ohne Bezug zur Arbeitsleistung. Für viele bezahlten Tätigkeiten bezieht sich genau betrachtet das Einkommen heute nicht auf die erbrachte Leistung, sondern auf die Macht und Stärke der verhandelnden Tarifpartner.

Wozu noch arbeiten,
wenn wir auch so unsere Existenzgrundlage erhalten? Was ist dann der Antrieb für’s Arbeiten. In Freizeitbeschäftigungen zeigt es sich oft: Die Freude. Dort wo Beschäftigung nicht mit der Sorge um die Lebensgrundlage zusammenhängt, kann auch mehr daraus entstehen. Dies kommt der Gesamtheit zugute, mithin ja wieder dem Einzelnen. Wer sich nur um »lohnendere« finanzielle Beschäftigung bemüht, wird nach kurzer Zeit auch nur noch so viel leisten, wie er meint, was seiner Entlohnung entspricht. Man denke an einen Arzt, der nur des Geldes wegen sich der Patienten annimmt. Oder an einen Automechaniker, dem die Sicherheit des Autos unwichtig ist? Der gesellschaftliche Schaden kann da erheblich sein.

Verknotungen lösen
Durch die heutige einförmige-zentralistische Gestaltungsweise des Gesellschaftslebens schlagen Probleme in einem Bereich sofort auf die jeweils anderen beiden durch. Verschiedenartige Konflikte steigern sich so oder machen sich gegenseitig unlösbar. Was wir brauchen, sind Lösungen im Sinne der dreigliederigen Sozialität. Die Kunst dabei ist es, das jeweils Mögliche zu tun. Nicht »Ideallösungen« sind anzustreben, sondern solche, die sich weiter ausbilden lassen. „Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeit sättigt.“ (Rudolf Steiner in der Vorrede zur 2. Auflage seines – hier aufgezeigten – Buches »Der Kernpunkt der sozialen Frage«)

Ideal oder Wirklichkeit?
Die aufgezeigten Gesetze erscheinen vielleicht nur als erstrebenswerte oder durchzusetzende Ideale. Tatsächlich zeigen sie aber in jeder Gesellschaftsform, unter welchen Bedingungen die Zufriedenstellung wächst, aber auch warum sie schwindet. In der täglichen Beobachtung kann man seine Sinne dafür wecken und versuchen, aus der Dreigliederung die bestmögliche Art des Zusammenwirkens für alle zu erreichen.

Roland Brendel, Weilheim

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