Sichtweisen

Personen: Katharina und Severin Hofmeister in der Seniorenresidenz »Alte Post« in Seeshaupt

S: Ich bin mit dem, was der Kommentator in der »Süddeutschen« bezüglich Putin schreibt, nicht einverstanden, Katharina. (legt die Zeitung auf den nachmittäglichen Kaffeetisch, den seine Frau gerade abräumt)

K: Ich eigentlich auch nicht, Severin. Ich habe vorhin mit Absicht nichts dazu gesagt, weil ich dir nicht vorgreifen wollte.

S: Die bekannte Taktik der Frau. Ja, im Wesentlichen sagt der Mann ja nur, was fast schon Tendenzcharakter hat, nämlich, dass Putin nur noch ein wenig Geduld aufbringen muss, bis es soweit ist, dass die Ukraine wie geschenkt an ihn fällt.

K: Genau. Ich meine aber, dass sich der Kommentator und auch Putin diesbezüglich täuschen.

S: Sehe ich auch so. Putin hat ja schon beim Ausrufen seiner »militärischen Spezialoperation« einen elementaren Fehlschritt getan, weil er offenbar nicht auf einen Teil seiner Geheimdienstleute und Berater hören wollte, die ihm sagten, dass sich die Ukraine inzwischen ziemlich gefestigt auf einem neuen Weg befindet. Und gegenwärtig will er nicht erkennen, dass der Krieg, den er vor zwei Jahren mit diesem Fehlschritt ausgelöst hat, sein Land und ihn selbst schwer belasten.

K: Du, Severin, manchmal höre ich das Knirschen in seinem Land bis zu uns an den See herübertönen.

S: (lacht) Weil du so ein feines Gehör hast, mein Engel. Ja, und so wird die irgendwie verständliche Idee Putins, wieder das alte Russland zu errichten, vielleicht als große Tragödie enden, weil man so etwas besser nicht mit Gewalt herbeiführt.

K: Auch wenn die Opposition in Russland fast keine Wirkung verzeichnen kann, vermute ich doch, dass die Lasten aus der Kriegsführung dem Volk irgendwann zu viel werden. Es wird daraus vielleicht keine Revolution resultieren, aber ganz sicher werden sich im ganzen Land erhebliche Verfallserscheinungen einstellen, und Putin wird an Glanz verlieren.

S: Ja, er hat sich verrannt und befindet sich heute eindeutig in einer Zwangslage; er ist zum Erfolg verdammt, und in so einer Situation wird die Bewahrung einer Führungsposition immer schwieriger und führt früher oder später zum Sturz.

K: Wie die Menschheit das seit Langem kennt.

S: Ja, Katharina, mir tut sein Volk inzwischen leid. So, wie wir zwei Russland kennen, und so sympathisch uns Land und Leute sind, will ich gar nicht daran denken, welch schlimme Folgen dieser Putin für Russland auslösen kann.

K: Mir geht’s genauso, Severin. Gott sei Dank höre ich nicht nur das Knirschen im Osten über den See wehen, sondern zwischendurch auch einen Hauch von der Musik des großen Sergei Rachmaninow, was Hoffnung in mir aufsteigen lässt.

S: Wunderbar, mein Engel! Ja, und ich will gerne an die schönere von deinen Wahrnehmungen glauben.

K: Glaub’ daran, Severin.

Guggera

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