An sich kann ich mich über Jahrzehnte an keinen Artikel erinnern, den ich derart oft umgeschrieben und umgedacht habe wie diesen. Neben den umfassenden gesellschaftlichen Konsequenzen bezüglich der Corona-Maßnahmen hängt dies vor allem mit der Halbwertszeit so mancher offizieller Aussage wie auch den immer wieder überraschenden Momenten zusammen, wo sich für mich völlig klare und mit realen Zahlen belegbare Beispiele nicht mehr vermitteln lassen.
Verwirrende Zeiten eben, in denen ich als Bürger »nur« eine sachliche, wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär besetzte, aber eben kontrovers geführte Debatte zur Corona-Thematik von Politik, Wissenschaft und den (Leit-)Medien erwarte.
Warum erwarte ich das? Als jemand der im Gemeinwesen wirkt, sehe ich da dunkle Wolken aufkommen, wenn das bisher Geschehene einmal von neutraler Warte aus betrachtet wird. Wohl nicht ohne Grund haben inzwischen über 120 Wissenschaftler aus den verschiedensten Fachbereichen Kritik – in unterschiedlicher Ausprägung – an der offiziellen Corona-Strategie öffentlich geäußert.
Vielleicht mag dieses Bekenntnis am Anfang dem einen oder anderen Leser Trost geben, der sich bisher auch vor einem Berg voller Fragwürdigkeiten sieht, der aber für sich einen wohl durchdachten Weg der Entscheidungsfindung gestalten will.
Inzwischen (Stand 15. Mai) sind wir in total ungewohnten Zeiten angekommen. Selbst Bild-Chef Julian Reichelt übt deutlichste Kritik an der »Corona-Politik« von Merkel & Co. in einem Kommentar auf der Titelseite vom 27. April: „Schluss mit Starrsinn in der Corona-Politik!“ Oder es gibt Bild-Überschriften wie am 13. Mai: „Professor der Leopoldina (Prof. Dr. Peter Schirmacher) – Mehr Tote durch Corona-Regeln.“
Wer es etwas heimeliger wünscht, findet seit Ende April auch im Münchner Merkur Entsprechendes: „Krise nur verschlimmert? Coronavirus: War der Lockdown ein »Riesenfehler«? Experten kritisieren Entscheidung.“ Vielleicht steht so ein medialer Gesinnungswandel ja auch im Zusammenhang mit den Worten des Ministers Spahn, Bundestag, 22. April: „… dass wir miteinander wahrscheinlich viel werden verzeihen müssen in ein paar Monaten.“
Bevor man nun aber allzu schnell – unhinterfragt! – in den »verzeihen müssen«-Modus wechselt, mag es wohl der Besonnenheit geschuldet sein, eine kleine Revue des Geschehenen zu formulieren:
- Jens Spahn, 28. Januar, Pressekonferenz Berlin (ARD-Mediathek): „Zusammengefasst nochmal: Wir verfolgen die Situa-tion und die aktuellen Entwicklungen sehr, sehr aufmerksam, sehr, sehr ernsthaft, aber gelassen. Das Einzige, was mich wirklich beunruhigt, um das auch zu sagen, sind Verschwörungstheorien aller Art, die hier schon wieder in den sozialen Medien zu finden und zu lesen sind. Solchen Verschwörungstheorien können wir am Ende nur mit größtmöglicher Transparenz begegnen.“
- Stand 15. Mai: Wer nun zu besonnener Gelassenheit aufruft, sich auf die Aussagen von über 120 Wissenschaftlern bezieht, wird von Politik, (Leit-)Medien & Co. fast automatisch in die Ecke von – wörtlich – »Verschwörungstheoretikern« gestellt. Ist das Transparenz oder trägt dies eher zur Spaltung bei?
- BR-Sendung »quer«, 30. Januar (BR-Mediathek), mit Christoph Süß: „Würde man sich jede Horrorzahl merken, man zerfiele ja zu Staub.“ Und weiter: „Wer die Apokalypse zur Basis seines Denkens macht, der schlägt Maßnahmen zu deren Verwirklichung vor.“ – Wohl gemerkt: Das waren im Januar Pfeile gegen diejenigen, die vor einer Infektionsgefahr warnten.
- Das Robert-Koch-Institut (RKI) rät in den »Empfehlungen zum Umgang mit Covid-19-Verstorbenen« zunächst von Obduktionen ab. Erst deutliche Kritik namhafter Pathologen veranlasst RKI-Präsident Wieler am 7. April dazu, die Bedeutung der Obduktion auch im Fall von Corona anzuerkennen. An der Hamburger Uniklinik (UKE) ist man da schon weiter: Pathologe Prof. Klaus Püschel gibt bekannt, dass bis dahin alle obduzierten Hamburger Corona-Toten Vorerkrankungen hatten. Inzwischen sind einige wenige ohne Vorerkrankung bekannt. Püschel verweist darauf, besonders auf Thrombosen und Embolien zu achten. Nach wie vor betont Prof. Püschel (UKE-Pressekonferenz, 8. Mai): Wir sollten zu unserer aller Gesundheit in Wissenschaft, Politik und Medienwelt den Angstmodus verlassen. Corona ist kein Killervirus.
- Die zum Lockdown von Bundeskanzlerin Merkel angestrebte Verdoppelungszeit der Infektionen von 10 Tagen war nach kurzer Zeit Realität, wurde immer größer: 18 Tage am 12.4., 53 Tage am 25.4., 143 Tage am 6.5. … und war dann nicht mehr maßgebend, eben „Starrsinn in der Corona-Politik“.
- Dazu war die Zunahme der positiven Testzahlen im März an sich ohne Aussagekraft, da die Gesamttestzahl und die getestete Personengruppe nicht bzw. nur unzureichend vom RKI benannt wurde, die Testungen aber deutlich gesteigert wurden.
- Ernste staatsrechtliche Bedenken wegen den Maßnahmen, z. B. von Prof. Uwe Volkmann … um nur einen zu nennen, sind weitgehend ungehört verhallt.
- Und wenn man aktuell keine zentrale Corona-App bekommt, dann zumindest den Immunitätsausweis (auch nach dem eingekürztem Eilgesetz vom 14. Mai von Herrn Spahn so geäußert). Zwar zeichnet sich da kein Impfzwang, sondern sozusagen »nur« eine Nötigung zur Impfung ab … und rund 50 % der bekannten Impfstoffforschungen basieren auf genetischen Impfstoffen, in Deutschland z. B. beim Helmholtz-Institut in Würzburg.
Bei so viel exekutiver Staatsgewalt wäre es dringlich, dass sich seitens der (Leit-)Medien kritisch-konstruktive Stimmen erheben und den wissenschaftlich fundierten Dialog einfordern – auf allen (!) wissenschaftlich relevanten Themenfeldern. Aber: Bis auf wenige Ausnahmen – bewusst habe ich obige Beispiele auch aus diesem Kreis gewählt – fehlt es in der Berichterstattung oft an Ausgewogenheit. Wen wundert es da, wenn hier von Hofberichterstattung gesprochen wird, insbesondere bei den Öffentlich-rechtlichen … wobei es inzwischen deutliche Ausreißer gibt.
Wie kann man sich nun diese Einseitigkeit der herrschenden Meinung erklären, wie kann sich so etwas dermaßen hochschaukeln, ohne großartig spekulieren zu wollen?
Wenn Virologen in ihrem Gebiet zunächst einfach etwas Interessantes gefunden haben, mag mancher Virologe vom Ehrgeiz ergriffen sein. Dann kommen Politiker und Medien dazu, reagieren auf ein an die Wand geworfenes Szenarium, übernehmen Argumente, und die Wissenschaftler, insbesondere die weisungsabhängigen in staatlichen Instituten wie dem RKI, bedienen dann wieder die Politiker mit Argumenten. Flugs kommen Sekundärinteressen wie nationalstaatliche und konzerngebundene Wirtschaftsinteressen, persönliche Motivationen von fachlicher Anerkennung und Ehrgeiz über politische Umfragewerte bis hin zu monetären Einnahmen etc. dazu. Wenn man dann auf Seiten der Entscheider sitzt, haben nur wenige den Mut, einen wirklich fundierten kontroversen Dialog anzustreben.
Vielleicht ist aber diese Viruskrise, so entzweiend wie sie zurzeit bei uns auch geführt wird, eine Chance, diese Entzweiung zu erkennen und zu durchdringen. Zum einen in die Richtung sich bewusst zu machen, dass Angst kein guter Berater ist. Hier höre ich noch die an den Fassbinder-Film erinnernden Worte von Prof. Püschel an der UKE-Pressekonferenz: „Angst essen Seele auf.“ Zum anderen steht wohl durchaus ein anderer Umgang mit dem Thema Tod vor uns, den wir mit Lebensmut und Menschlichkeit weiter spannen können:
- 821 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger (Stand 2017), etwa 9 Millionen Menschen sterben jährlich an Hunger und Unterernährung, d. h. alle drei Sekunden verhungert ein Mensch und dabei ist jeder dritte Todesfall ein Kind unter fünf Jahren.
- Lebenszeit verkürzt nicht nur ein Corona-Virus, sondern auch Übergewicht, Rauchen, Alkoholkonsum etc. Über 570 000 Menschen (Stand 2017) sterben in der BRD jährlich an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.
- Und jeder Todesfall sollte für uns ein Trauerfall sein – das äthiopische Kind genauso wie unser Großvater zu Hause – und eine schöne Erinnerung, dass wir diesem Menschen nahe waren bzw. näher waren, als wir vielleicht manchmal denken. So ende ich nun mit Worten von Hans-Peter Dürr: „Wenn wir die Natur auf das reduzieren, was wir verstanden haben, sind wir nicht überlebensfähig.“
Marcus Haseitl, Bad Grönenbach
Neueste Kommentare