Zu Weihnachten bekam ich, wunderbar eingepackt, ein Grundgesetz geschenkt. Das klingt nun nicht besonders originell. Und es ist ja auch so, dass ich schon ganz viele Grundgesetze habe – in allen denkbaren Ausgaben: großformatige und kleinformatige, bebilderte und unbebilderte, kommentierte und unkommentierte, schön gebundene und billig zusammengeklebte. Da gibt es Exemplare, die, es ist ein schöner Gag, kaum größer sind als eine Briefmarke. Und da gibt es Exemplare, die haben, und das ist kein Gag, sage und schreibe 16 000 Seiten. Bei letzterem Grundgesetz handelt es sich um den respektheischenden Großkommentar von Maunz/Dürig, der bei C. H. Beck in sieben Leinenordnern als Loseblattsammlung derzeit in der 92. Auflage erscheint und in dem renommierte Staatsrechtler die einzelnen Grundgesetzartikel kommentieren und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu analysieren.
Die Bürde des Menschen ist unantastbar
Mein Weihnachtsgeschenk-Grundgesetz ist zwar nur ein Taschenbüchlein, aber es ist gleichwohl ein sehr besonderes Exemplar. Auf der Vorderseite sieht man einen Menschen mit dem Kopf des Bundesadlers; dieser Mensch lässt gerade die Hosen runter und steht mit nacktem Hintern da. Auf der Rückseite des Büchleins sieht man, wie dieser Adlermensch dick und bräsig auf den Schultern einer kleinen Person hockt und sich tragen lässt. Die Beschriftung dazu lautet: „Die Bürde des Menschen ist unantastbar.“ Darunter, klein gedruckt, die Warnung: „Wer das Grundgesetz nachmacht oder das Grundgesetz verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte Grundgesetze sich verschafft und in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“
Das Grundgesetz und die Titanic
Mein Weihnachtsgeschenk-Grundgesetz ist, Sie ahnen es wohl, kein juristisches, sondern ein satirisches Werk. Es stammt von F. K. Waechter, der ein begnadeter Zeichner, Karikaturist, Cartoonist und Autor war, der zu den Protagonisten der Neuen Frankfurter Schule gehörte und vor vierzig Jahren zu den Gründungsmitgliedern des Satiremagazins Titanic. Das von ihm kommentierte und illustrierte Grundgesetz ist nicht mehr auf dem neuesten Stand; mein Weihnachts-Geschenk-Exemplar stammt aus dem Jahr 1982, also aus der Zeit lange vor der Wiedervereinigung und vor diversen Grundrechtsänderungen.
Genießen nur geimpfte Menschen Grundrechte?
Mein Weihnachtsgeschenk-Grundgesetz enthält daher natürlich auch keinerlei Anspielungen auf Corona, auf die Pandemie und auf die aktuellen Debatten dazu, ob die Menschen, die sich gegen Corona haben impfen lassen, sich damit Privilegien verdient haben. Die Privilegien sollen darin bestehen, dass für sie die Grundrechtseinschränkungen, wie sie zur Bekämpfung von Corona erlassen wurden, nicht mehr gelten; so propagiert es unter anderem Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Das klingt erst einmal plausibel, weil es sehr unverhältnismäßig ist, den Menschen, von denen keine Infektionsgefahr mehr ausgeht, solche Belastungen aufzuerlegen. Also sollen die Geimpften, so meinen Papier und andere, die Grundrechte genießen dürfen, die Ungeimpften aber nicht.
Grundrechte sind keine Privilegien
Wie gesagt, das klingt erst einmal plausibel und richtig – auch wenn man sich sogleich fragen mag, was denn der Einzelne zum Beispiel dafür kann, dass er nach der von der Staatsverwaltung festgelegten Impfreihenfolge erst in vielen Monaten mit seiner Impfung an der Reihe ist und also auch solange auf den Genuss der vollen Grundrechte warten muss. Es ist erstens hochproblematisch, dass diese Impfreihenfolge von der Verwaltung und nicht vom Gesetzgeber festgelegt wird; alle wesentlichen Entscheidungen müssen, das gehört zum rechtsstaatlichen Einmaleins, vom Gesetzgeber getroffen werden. Und es ist zweitens hochproblematisch, dass der Staat es auf diese Weise in der Hand hat, Grundrechte zuzuteilen.
Das führt zum sehr grundsätzlichen Haupteinwand gegen die sogenannten Privilegien für Geimpfte: Grundrechte sind keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss. Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein 13. Monatsgehalt. Sie sind einfach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch nehmen. Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie dem Menschen als Mensch und/oder als Staatsbürger zustehen. Das ist ja das ganz Besondere, das ist das Wunderbare an den Grundrechten: Sie gelten unabhängig vom Alter, unabhängig vom Einkommen, unabhängig von Rang und Hautfarbe, unabhängig von Glauben und Weltanschauung, unabhängig von Gesundheitszustand und Intelligenzquotient. Ein Grundrecht steht einem auch dann zu, wenn man sich dessen gar nicht bewusst ist, dass man ein Grundrecht hat. Die Grundrechte sind auch nicht irgendwo gelagert, sie müssen nicht in einem Grundrechtelager abgeholt werden gegen Vorlage bestimmter Bescheinigungen, so wie ein Paket bei der Post.
Symbolhafte Opfergaben, Verzichtsgehorsam
Das besonders Schöne an dem von F. K. Waechter illustrierten Grundgesetz ist der Stolz auf die Grundrechte, den man auch in seinen bittersten und bissigsten Zeichnungen spürt. Die Pandemie-Politik hat dazu geführt, dass dieser Stolz gelitten hat, dass es gar einen Stolz darauf gibt, Grundrechte dem Virus zu opfern. Ich habe es vor Kurzem schon einmal geschrieben: Mir ist bei einer Haltung unwohl, die so tut, als sei das Virus die Neuausgabe einer archaischen Gottheit, die man durch symbolhafte Opfergaben und Verzichtsgehorsam befriedigen muss.
Es geht nicht um Symbole, es geht nicht um Signale, die von einem Handeln ausgehen, oder um Zeichen, die man mit einem Verbot setzen will; es geht um die Frage: Was verhindert wirklich die Verbreitung des Virus? Gerade weil das häufig nur durch Versuch und Irrtum herauszufinden war und ist, ist eine Evaluation, wie wirksam die jeweiligen Maßnahmen sind, unbedingt nötig. Die generellen, pauschalierenden Eingriffe in die Grundrechte durch Verbote, Ausgangssperren, Schul- und Betriebsschließungen sind heikel. Sie werden nicht weniger heikel dadurch, dass man sich den Zutritt zu den verschlossenen Grundrechten – aktuell durch eine Impfung – wieder erwerben kann.
Verfassungen sollen, so hat einmal jemand süffisant gesagt, so sein, dass sie die Verfassung der Bürger nicht ruinieren. Das ist aber viel zu wenig. Verfassungen sollen dabei helfen, dass die Bürgerinnen und Bürger in guter Verfassung bleiben und ihren Rechten nicht die Luft ausgeht. Momentan geht den Rechten der Bürgerinnen und Bürger die Luft aus.
Der Berliner Verfassungsrechtler und Rechtsphilosoph Christoph Möllers hat das vor ein paar Tagen im Interview in der SZ so formuliert: „Man kann eine Gesellschaft auch anästhesieren, indem man sagt, eigentlich gilt die Versammlungsfreiheit, aber gerade jetzt dürft ihr nicht demonstrieren.“
Heribert Prantl, Kolumnist & Autor der Süddeutschen Zeitung
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