Mein syrisches Tagebuch (3)

Wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, im Oktober 2010, habe ich eine dreiwöchige Reise durch einige Landesteile Syriens unternommen, mit Rucksack, öffentlichen Verkehrsmitteln, Notizblock, aber ohne Fotoapparat. Meine Eindrücke habe ich in einem Reisetagebuch festgehalten. Hier nun der 3. Teil:

3. Oktober: Zauberhaftes Aleppo

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Früh werde ich geweckt – nein, nicht vom Ruf des Muezzin, sondern vom Glockengeläut der im 19. Jahrhundert gebauten katholischen Kirche hinter dem Hotel! Tja, in Syrien ist möglich, was im Deutschland von Herrn Sarrazin undenkbar ist. Man stelle sich nur einmal vor, einen Steinwurf von Münchens Marienplatz entfernt riefe am Morgen der Muezzin zum Gebet! Beschämt muss ich mir eingestehen, dass für den größten Teil meiner deutschen Mitbürger eine solche Vorstellung wohl unerträglich ist.

Ich wandere heute zur Zitadelle, wie immer auf »Umwegen« durch das Gewirr der alten Gassen, und es wird mir wieder einmal bewusst, was für uns moderne Europäer den Reiz dieser alten Städte ausmacht: Es ist wohl die »Ganzheit« menschlichen Lebens, das Neben- und Miteinander von Produktion, Handel, Wohnen, geselliger Zerstreuung, Erholung und religiöser Hingabe. Wohnung, Werkstatt, Geschäft, Teestube, Moschee und Hamam – alles ist in Reichweite, kaum getrennt. Ein Nebeneinander auch der Generationen: Greise, die an der Türschwelle sitzen und Horden spielender Kinder in den Gassen. All das, was wir der Moderne geopfert haben, suchen wir nun sehnsüchtig wieder zu finden in fernen Ländern. Wohnen wir doch in »Schlafstädten«, arbeiten in Industriezonen oder Bürohäusern, kaufen in Einkaufszentren, entspannen uns im Vergnügungsviertel, erholen uns im »Wellness-Center«, besuchen unsere Alten im Altenheim und verbannen unsere Kinder auf Spielplätze, Kirchen brauchen wir schon lange nicht mehr…

Alles ist getrennt, funktional, effizient, raum-, geld-, zeitsparend organisiert. Das menschliche Dasein, es ist in Segmente zerfallen und es wird immer schwerer, die Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.

 

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