Wenige Monate vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, im Oktober 2010, habe ich eine dreiwöchige Reise durch einige Landesteile Syriens unternommen, mit Rucksack, öffentlichen Verkehrsmitteln (in der Regel Bus), Notizblock, aber ohne Fotoapparat. Meine Eindrücke habe ich in einem Reisetagebuch festgehalten und wenn ich das heute lese, die Bilder von Zerstörung und Leid in diesem einstmals so schönen Land vor Augen, stockt mir der Atem.
In dieser OHA-Ausgabe und den folgenden möchte ich kurze Auszüge aus diesem Tagebuch wiedergeben. Denn es liegt mir daran, vor Augen zu führen, wer diese Menschen sind, die da zu Tausenden zu uns fliehen, woher sie kommen, was sie zurücklassen müssen, was sie verloren haben. Und vielleicht wird mancher von uns beschämt feststellen, dass wir in Europa keinen Grund haben, auf »Asylanten« aus fremden Ländern geringschätzig herabzublicken.
Hier also der erste Auszug aus meinem syrischen Tagebuch aus dem Jahre 2010:
2. Oktober: Eintauchen in eine andere Welt
Am nächsten Morgen treibt mich die Neugier schon früh, d. h. kurz nach 8 Uhr, auf die Gassen, die noch ganz schläfrig vor sich hin dämmern. Aleppo, so stelle ich fest, kommt erst spät in die Gänge, erst gegen 10 Uhr schwillt der Verkehr auf den Straßen an, erst dann öffnen die Geschäfte, Banken und Büros. Aber die »Ruhe vor dem Sturm« hat auch einen großen Reiz: Tauben flattern auf, Katzen flüchten in Hauseingänge, die Schritte der wenigen Passanten hallen in den Gassen nach. Und immer wieder herrlicher Geruch frischen Brotes, der aus den zahlreichen Backstuben kommt! Ich kann sehen, wie das Getreide gemahlen, der Teig geknetet und die Fladen in den Holzofen geschoben werden. Später werden die fertigen Fladenbrote auf dem Bürgersteig ausgebreitet (teilweise ohne jede vor Schmutz schützende Unterlage!) wo sie dann die ersten Kunden auswählen für ihr Frühstück, das u. a. aus Oliven, Käse, Honig – und eben diesen frischen Fladen besteht.
Ich lasse mich treiben, habe mir nur ungefähr die Richtung eingeprägt zur großen Moschee und zur Zitadelle. Links sehe ich ein wunderschönes altes Holzhaus, dann wieder rechts eine malerische Gasse, dann folge ich um drei Ecken einem Geräusch, das ich nicht zuordnen kann und komme so zu einem Punkt, an dem ich vor einer halben Stunde schon einmal war. Ein vermeidbarer, bedauerlicher Umweg? Nein, auf einer solchen Wanderung gibt es keine »Umwege«, nur Wege zu stets Neuem, bisher nicht Gekanntem.
Unerwartet macht die Gasse plötzlich eine Biegung und gibt einen unvergesslichen Blick frei auf die Zitadelle über der Altstadt, davor die nicht minder berühmte große Moschee! Es ist wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht! …
Später am Tag entdecke ich beim Uhrturm, einem neueren Wahrzeichen Aleppos, eine große Teestube, die es mir sogleich angetan hat. Sie liegt im ersten Stock eines alten Gebäudes, an einem großen Rondell, das umtost wird vom nie abbrechendem Verkehrsfluss. Im Innern ist der Raum überladen mit orientalischem Zierrat, kleinen niedrigen Tischchen, Sesseln und Stühlen, Lampen aller Art, Deckchen, Vasen, Krügen, Schalen… Ausschließlich Männer – jeden Alters – sitzen da am helllichten Tag, spielen Karten oder ein Brettspiel, das wie Backgammon aussieht, oder sie schwatzen nur und genießen Tee und Wasserpfeife, deren süßlicher Rauch durch den Raum wabert. Ich bestelle mir eine Kanne köstlichen Tee und ein wenig von dem noch köstlicheren Konfekt, für das Syrien berühmt ist.
Durch das große, wohl schon länger nicht mehr geputzte Fenster, kann ich das Treiben unten auf der Straße beobachten und bin fasziniert: Wie ein endloser Fischschwarm ziehen tausende Autos pausenlos ihre Bahn, überholen – meist in einem Abstand von nur wenigen Zentimetern – links und überholen rechts, niemand bremst abrupt, niemand schimpft oder gestikuliert, gehupt wird selten. Die nicht wenigen Fußgänger, die durch das Autogewühl von einer Straßenseite auf die andere wollen, haben eine faire Überlebenschance, sie müssen sich nur zielstrebig und mutig verhalten. Ich erkläre die syrischen Autofahrer in diesem Augenblick spontan zu den besten der Welt. Wie an allen größeren Kreuzungen, so steht auch hier ein Polizist und betätigt ohne Unterlass seine Trillerpfeife. Aus welchem Grund und zu welchem Zweck bleibt mir unerfindlich, er ist aber sicherlich davon überzeugt, dass es nur seinem Tun zu verdanken ist, dass es nicht zu Staus oder Toten und Verletzten kommt …“
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