Sind wir bereit, etwas von unserem Wohlstand abzugeben?
In der aktuellen »Flüchtlingskrise« überlagern sich zwei Ursachen für den derzeitigen Zustrom von Millionen Menschen nach Europa: Zum einen sind da die Menschen – vor allem aus Afghanistan, Irak und Syrien – die vor Krieg und Zerstörung Sicherheit suchen. Sie fallen unter die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Aufnahme bei uns ist weitgehend unumstritten, zumal vielen von uns eine Mitschuld an ihrem Schicksal durchaus bewusst ist: Als drittgrößter Waffenlieferant der Welt haben wir die Kriege mit befeuert und so an ihnen gut verdient, wir haben jahrelang schulterzuckend die riesigen Flüchtlingslager in Jordanien, der Türkei, im Irak oder im Libanon zur Kenntnis genommen – ohne Bereitschaft zu zeigen, genügend Geld für ein menschenwürdiges Leben in diesen Lagern bereitzustellen.
Neben diesen Kriegsflüchtlingen haben wir es – wie gesagt – gegenwärtig mit einer »Völkerwanderung« zu tun, wie es sie in der Menschheitsgeschichte immer dann gegeben hat, wenn das demografische und ökonomische Gefälle zwischen verschiedenen Regionen dieser Erde zu groß geworden war. So machten sich z. B. unsere germanischen Vorfahren im 6. Jahrhundert in Richtung Rom auf, und verzweifelte Menschen aus Europa machten sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Amerika und Australien, um dort einen Neuanfang zu versuchen. Allein von Bremerhaven aus kehrten zirka 7,2 Millionen Deutsche und andere Europäer ihrer Heimat den Rücken, ungeachtet aller Risiken und Gefahren, die dies für sie bedeutete. (Ein Besuch des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven lohnt sich!) Und heute sind weltweit etwa 60 Millionen aus den unterschiedlichsten Gründen auf der Flucht, UN-Experten schätzen, dass es gegen Ende des 21. Jahrhunderts 500 Millionen sein könnten!
Aus der Systemtheorie wissen wir, dass Systeme immer nach Gleichgewicht streben, aus der Physik ist uns dies als Prinzip der »kommunizierenden Röhren« bekannt. Und in der Tat ist das »System Erde« derzeit massiv aus dem Gleichgewicht geraten: Abnehmende Bevölkerungszahlen auf der einen Seite, drängende Enge auf der anderen, verschwenderischer Reichtum in den Industrieländern, bittere Armut in weiten Teilen Afrikas, Südamerikas und Asiens, die zudem unter dem Klimawandel besonders leiden. Und wir tragen täglich dazu bei, dass dieses Ungleichgewicht zunimmt; unser Reichtum beruht ja nur teilweise auf unserem Fleiß, zu einem großen Teil geht er zu Lasten anderer Länder und der Umwelt. Uns geht es gut, weil es anderen schlecht geht! Jedes Jahr steigt die Zahl der Urlaubs-Flüge, wie auch die PS-Zahlen unserer Autos (inzwischen ist jedes fünfte neu zugelassene Fahrzeug ein SUV!), jedes Jahr vernichten wir in Deutschland fast die Hälfte aller produzierten Lebensmittel im Wert von über 20 Milliarden Euro (Quelle: www.tafel.de), europäische Ölfirmen haben das Niger-Delta in Nigeria unbewohnbar gemacht, europäische Fischereiflotten fischen die Fischgründe vor der westafrikanischen Küste leer, Holzfirmen holzen die letzten Urwälder in Guinea oder Sierra Leone ab, europäische Agrarprodukte (wie z. B. Hühnerfleisch) vernichten die Existenz kleiner Bauern, Giftmüll aus Europa macht ganze Küstenstreifen in Westafrika unbewohnbar, Kinder in Afrika werden in der Baumwollproduktion oder in Bergbauminen wie Sklaven ausgebeutet – es gibt inzwischen zahllose Gründe für den Exodus von Millionen Menschen aus ihrer angestammten Heimat. Wir wollen uns die Rosinen der Globalisierung herauspicken, die bitteren Folgen des weltumspannenden ausbeuterischen Wirtschaftssystems aber fernhalten. Das kann und wird nicht funktionieren! Selbst Finanzminister Schäuble hat die Fluchtbewegung nach Europa (zutreffend) als „Rendezvous mit der Globalisierung“ bezeichnet.
Gleichgültig für welche der diskutierten Lösungen wir uns letztlich entscheiden: Die weltweite Migration wird uns in diesem Jahrhundert in Atem halten, sie wird uns Milliarden kosten und sie wird uns zu einem anderen Lebensstil zwingen, ob wir es wollen oder nicht.
Ein Ausbau Europas zur Festung kostet viel Geld. Die USA geben für etwa 1000 km Grenzanlagen zum Nachbarstaat Mexiko 13 Milliarden Dollar aus – im Jahr! Und dennoch kommen noch immer zahllose Flüchtlinge ins Land. Eine Abschottung der nationalen Grenzen innerhalb Europas käme noch viel teurer und wäre volkswirtschaftlich wie politisch eine Katastrophe. Eine solche »Lösung« könnte zudem schnell mit dem Dritten Weltkrieg enden! Man stelle sich Hunderttausende verzweifelter Menschen (Männer, Frauen, Kinder) vor, die gegen Grenzanlagen anstürmen und die vermutlich nur mit militärischen Mitteln ferngehalten werden könnten. Können wir das wollen, würde das unsere Gesellschaft aushalten und wäre nicht schnell ein weltpolitischer Akteur (China, Saudi Arabien, Iran, die internationale Dschihadisten-Bewegung u. a.) bereit, die Situation als »Schutzmacht der Entrechteten« zu instrumentalisieren?
Lassen wir aber auf unabsehbare Zeit alle Menschen nach Europa, die sich hier eine Lebensperspektive erhoffen, würde auch dies vermutlich nicht einmal dann zu schaffen sein, wenn wir bereit wären, unseren Reichtum zu teilen, in unseren Wohnungen zusammenzurücken, höhere Steuern zu akzeptieren, unseren Konsum einzuschränken usw. Deutlich wurde zuletzt auch, dass die Finanzierung menschenwürdiger Flüchtlingslager an den Außengrenzen Europas viele Milliarden kostet und auf Dauer keine Lösung darstellen kann.
Die beste, weil nachhaltigste Lösung wäre sicherlich, die Ursachen für Flucht zu beseitigen. Aber es liegt auf der Hand, dass auch diese Lösung – und gerade sie – erhebliche Folgen für unseren Wohlstand hätte: Allein die auf der Weltklima-Konferenz beschlossenen Maßnahmen werden uns – wenn sie denn umgesetzt werden – viele Milliarden kosten und eine Veränderung unseres Konsumverhaltens notwendig machen (Verzicht auf Flugreisen, spritfressende Autos, Abkehr von der Wegwerf-Mentalität usw.) Die Abkehr von den schon erwähnten ausbeuterischen Handelsbeziehungen würde bedeuten, dass die Preise für importierte Agrarerzeugnisse, Textilien, Mobiltelefone usw. in einem Maße steigen würden, dass wir uns vieles von unserem Überfluss nicht mehr leisten könnten. Es ist in dieser Situation verhängnisvoll, dass Freihandelsabkommen (wie CETA und TTIP) den Trend zur neoliberalen Globalisierung weiter verstärken, anstatt eine Veränderung unseres Lebensstils einzuleiten.
Die Frage lautet für mich nach all dem nicht: „Schaffen wir das?“. Für mich steht vielmehr fest, dass die Forderung lautet: „Wir müssen das schaffen!“ Andernfalls nämlich könnte das Ende der Menschheitsgeschichte nicht mehr allzu fern sein …
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