Ist ein analoges Leben in dieser »smarten« Zeit noch möglich?

Als ich in den 1980er Jahren das erste Mal hörte, dass es jetzt neue Telefone gibt, die man mit sich herumtragen kann, war meine spontane Reaktion: „Ich will gar nicht immer und überall erreichbar sein!“ Und dabei ist es bis heute geblieben, auch wenn inzwischen aus einem Handy, mit dem man ausschließlich telefonieren konnte, ein Multifunktionsgerät geworden ist, das für einen großen Teil der Bevölkerung aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken ist.

Später kamen dann die ersten Infos über belastende und gesundheitsschädliche Wirkungen der Mobilfunkstrahlung von Handys und Sendemasten, durch die ich mich zusätzlich in meiner ablehnenden Haltung dieser Technik gegenüber bestätigt sah. Von offizieller Seite wurden diese Bedenken immer weggewischt und die Mobilfunknetze ständig weiter ausgebaut. Zudem verdiente der Staat mit dem Verkauf immer neuer Frequenzen auch nicht schlecht.

Zum Problem dieser Rund-um-die-Uhr-Bestrahlung kommen seit einigen Jahren für handylose Menschen auch noch immer mehr Bereiche, in denen sie deutlich benachteiligt werden. Besonders schwierig wird es für diejenigen, die zudem keinen Internetzugang haben.

So hat die Deutsche Bahn den Verkauf von Sparpreis-Tickets an Automaten eingestellt und auch der Kauf und die Nutzung des 49-Euro-Tickets gestaltet sich ohne Internet und Smartphone eher schwierig. Ein Vater erzählte mir kürzlich, dass er seiner Tochter für die Busfahrkarte ein Smartphone kaufen musste, weil sie jetzt Fahrschülerin ist.

Auch die BahnCard 25 und 50 gibt es ab dem 9. Juni 2024 nicht mehr als Plastikkarte, sondern nur noch digital, so die Meldung vom 15. März auf Tagesschau.de. Zwar soll es im Reisezentrum auf Wunsch einen Papierausdruck von Tickets und auch der BahnCard geben, Pech nur, wenn es am Wohnort und auch in der näheren Umgebung überhaupt kein Reisezentrum mehr gibt.

Als ich kürzlich im Internet nach einer Übernachtungsmöglichkeit in einem Ort suchte, stellte ich fest, dass das preisgünstigste Hotel ein »Digitales Hotel« ist und somit von mir ohne Smartphone gar nicht gebucht werden kann.

Auch in der schönen Dorfladenbox mit regionalen Produkten, die seit letztem August in Schongau ganz in meiner Nähe steht, kann ich nicht wie Smartphone-Besitzer rund um die Uhr einkaufen, sondern nur zu sehr begrenzten Öffnungszeiten mit »Türöffnern« für mich.

Berichtet wurde auch schon von Parkuhren, bei denen man nur vom Smartphone aus eine Parkzeitverlängerungsmöglichkeit hat und von Städten mit Anruf-Bussystemen, die ausschließlich mit dem Smartphone gebucht werden können.

Sicher gibt es aber noch jede Menge anderer Beispiele. Groß ist dann das Chaos, wenn durch einen Stromausfall oder andere Ursachen diese Technik plötzlich nicht mehr funktioniert.

Renate Müller, Schongau


Der Verein Digitalcourage und auch verschiedene andere Organisationen und Persönlichkeiten, wie z. B. Heribert Prantl setzen sich für ein Recht auf ein analoges Leben ein.

Digitalcourage startete am 23. Mai 2024 eine Petition dazu:

Foto: Jens Reimerdes, CC-BY 4.0

Digitalcourage fordert Recht auf Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen

„Ohne Smartphone keine Speisekarte, ohne E-Mail keine Fahrkarte, ohne App kein Paket, ohne Account keinen Arzttermin – dieser Trend zum Digitalzwang nimmt gerade an Tempo auf. An immer mehr Stellen werden wir genötigt, uns einzuloggen, online zu registrieren oder eine App herunterzuladen – und dabei immer mehr persönliche Daten preiszugeben”, sagt Rena Tangens, Gründerin und Vorstand von Digitalcourage.

Digitalcourage bearbeitet das Thema Digitalzwang seit 2021 – täglich erreichen die Grundrechtsorganisation Beschwerden von Menschen über Benachteiligungen und de facto Ausschluss. Der Deutschen Post DHL hat Digitalcourage 2023 einen viel beachteten BigBrotherAward für den Digitalzwang bei ihren neuen Packstationen verliehen.[1] Auch der zunehmende Zwang, die Terminplattform des Unternehmens Doctolib zu nutzen, um einen Arzttermin zu bekommen, war mehrfach Thema.[2] Digitalcourage hat sich mehrfach gegen die Versuche der Deutschen Bahn ausgesprochen, Menschen zur Benutzung der App »DB Navigator« zu nötigen[3] und klagt gegen das übergriffige Tracking in dieser App.[4]

Nun will Digitalcourage das Problem grundlegend angehen, erklärt Julia Witte, Redakteurin und Campaignerin bei Digitalcourage: “Wir wollen das Übel bei der Wurzel packen: Wir fordern den Bundestag auf, das Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen!”

Petition startete am 23. Mai 2024

Zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes startete Digitalcourage deshalb eine Unterschriftensammlung, die an den Bundestag gerichtet ist. Die Online-Petition startete am 23. Mai 2024 und ist über die Website https://digitalcourage.de zu finden. Es wird aber auch die Möglichkeit geben, offline auf Papier zu unterzeichnen.

Mit dieser Petition fordert Digitalcourage die Bundesregierung auf, das Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen und damit gesetzlich zu verankern. Denn die Wahrnehmung der Grundrechte und der Daseinsvorsorge, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Nutzung der öffentlichen Infrastruktur (z.B. Post, Bahn, medizinische Versorgung) darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass Menschen das Internet, ein Smartphone oder bestimmte Software benutzen.

Digitalzwang schließt viele Menschen aus

Digitalzwang schließt viele Menschen aus. Davon betroffen sind oft alte oder kranke Menschen, Menschen mit Behinderung und Menschen mit geringem Einkommen, die sich ein (aktuelles) Smartphone und die Kosten für mobile Daten nicht leisten können. Digitalzwang betrifft aber auch oft Menschen, die sehr technik-affin sind, erklärt Rena Tangens: ” Es gibt Leute, die behaupten, das sei ein Problem, das irgendwann ‘wegsterben’ würde. Das ist nicht nur zynisch, sondern auch schlicht falsch. Denn Digitalzwang betrifft nicht nur Seniorinnen, sondern auch Menschen, die ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung ernst nehmen, die nicht wahllos Apps auf ihrem Gerät installieren möchten und nicht bei jeder alltäglichen Handlung eine Datenspur hinterlassen wollen.”

Auch die Nutzung von alternativen Betriebssystemen oder die bewusste Ablehnung der App-Stores großer Anbieter führt oft zu einem Ausschluss von digitalen Angeboten.

Für Julia Witte von Digitalcourage ist die Wahlfreiheit wichtig: “Ich möchte auch mal ohne Smartphone das Haus verlassen können! Es gibt viele Gründe, aus denen sich Menschen entscheiden, dauerhaft oder zeitweise kein Smartphone zu haben: Weil sie digitale Gewalt erlebt haben, weil sie bewusst nicht ständig erreichbar sein wollen oder ein Suchtpotenzial meiden wollen. Und schließlich kann auch einfach mal der Akku leer sein.”

Gute Digitalisierung sieht anders aus!

Digitalcourage befürwortet grundsätzlich eine durchdachte, datenschutzfreundliche Digitalisierung, wenn analoge Zugänge bestehen. Das ist aber oft nicht der Fall, meint Julia Witte: “Digitalisierung scheint für viele zu bedeuten: Wir machen jetzt eine App und bieten alle unsere Dienste nur noch darüber an. Diese App gibt es dann ausschließlich im Google-Playstore oder im Apple-Store und ist im schlimmsten Fall auch noch voller Tracker. Dabei könnten mit ein bisschen mehr Kreativität und Weitsicht bessere, inklusivere Lösungen gefunden werden!”

Umdenken muss schnell geschehen

Mit der Petition will Digitalcourage jetzt für ein Umdenken sorgen, erklärt Rena Tangens: “Die Zeit drängt, denn immer mehr analoge Dienste, die uns bisher zur Verfügung standen, werden abgeschafft. Diese Infrastruktur später wieder aufzubauen, wird schwierig, wenn sie erst einmal verschwunden ist. Wir sollten sie auch aus Gründen der Resilienz bewahren. Deshalb gehört das Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz!”

Pressemitteilung von digitalcourage e. V.


Quellenangaben / Hinweise
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  1. Die Laudatio zum BigBrotherAward 2023 für die neuen Packstationen der Post DHL Group:
    https://bigbrotherawards.de/2023/deutsche-post-dhl
  2. Die Laudation zum BigBrotherAward 2021 für die Firma Doctolib GmbH für ihr Arzttermin-Vermittlungstool:
    https://bigbrotherawards.de/2021/doctolib-gmbh
  3. Digitalcourage und vzbv kritisieren in einer Pressemitteilung die neue Regelung beim Kauf von Spartickets der Deutschen Bahn: https://digitalcourage.de/pressemitteilungen/2023/kein-digitalzwang-bahn
  4. Übersichtsseite zur Klage von Digitalcourage gegen das Tracking in der „DB Navigator”-App:
    https://digitalcourage.de/db-tracking
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1 Kommentar

    • Roland Brendel, 82362 Weilheim auf 5. Juni 2024 bei 16:42
    • Antworten

    Deshalb habe ich jetzt die Vorhaltung eines Auto im CarSharingPfaffenwinkel gekündigt, obwohl ich dem System positiv gegenüberstehe. Mein früherer Münchner Anbieter war Vormittags selbst am Telefon, sonst rund um die Uhr ein Wachdienst.

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