Die Frauenrechtlerin Lily Braun beschreibt das „Rad“ in ihrem Standardwerk „Die Frauenfrage“ von 1901 als „Empanzipator“. „Leider ist dieses im kollektiven Gedächtnis viel zu wenig verankert“, sagt Frau Noder von Zuflucht Oberland e. V. Das Radfahren sich negativ auf die Fruchtbarkeit der Frau auswirke und der Sattel „die sexuelle Libido bei manchen Frauen ins Unermessliche“ steigere, sind nicht nur warnenden Worte religiöser Führer arabischer Länder unserer Zeit, sondern auch pseudowissenschaftliche Behauptungen deutscher Mediziner um die Wende des letzten Jahrhunderts, erklärt Frau Noder. *
„Zu dieser Zeit tobte der Kampf der Geschlechter auch in Deutschland auf dem Fahrrad“ führt Noder weiter aus; rund ein Dreivierteljahrhundert war Radfahren „reine Männersache“. Nachdem das erste Rad 1817 erfunden wurde, gab es erst 1889 das Niedrigrad ohne Stange zum Seiteneinstieg für Frauen. In der Zeit dazwischen waren Frauen auf Rädern Ausnahmeerscheinungen, zum Beispiel als „Artistinnen“ auf Hochrädern, „großbürgerliche städtische Emanze“ auf Dreirädern oder „Topsportlerinnen“ auf Männerrädern. Nach der technischen Weiterentwicklung des Rades zum „Damenrad“ brauchte es dennoch gut drei weitere Jahrzehnte bis es in den 1920er Jahren zum Massenartikel für Frauen wurde. „Ermöglicht haben dies zwei weitere gesellschaftliche Entwicklungen“, führt Noder aus: die Demokratisierung und der langsame Siegeszug der Hosenanzüge für Frauen.
So demonstrierten erstmals englische Frauen der europäischen Frauenstimmrechtsbewegung öffentlich mit dem Fahrrad für ihr Wahlrecht und die ersten „Bloomers“ / Pumphosen machten das Radfahren für Frauen viel praktikabler und sicherer. Die Bloomers sind nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin und begeisterten Radfahrerin Amelia Bloomer (1818-1894) benannt.
Der Blick zurück in die europäische Geschichte macht deutlich, warum wir heute auf der Straße nur wenige arabische Frauen mit dem Radl sehen. In vielen ihrer Länder wurden und werden demokratische und emanzipatorische Bewegungen von Frauen oft noch gewaltsam unterdrückt. In Afghanistan verbieten „religiöse Gesetze“ den Frauen per se das Radfahren, im Iran verhindert eine entsprechende Fatwa das Frauen in der Öffentlichkeit Rad fahren und in Saudi-Arabien dürfen Frauen nur in männlicher Begleitung und in dafür ausgewiesenen „Erholungsgebieten“ das Rad nutzen. Viele arabische Frauen haben deshalb „nie gelernt ein Rad zu fahren oder begrenzen sich selbst mit dem Verweis auf das Risiko für ihre ‚Keuschheit & Fruchtbarkeit‘, wie in Europa vor gut 120 Jahren“, konsterniert Noder.
„Die Angst der Männer, dass Frauen ihnen davon radeln“ offenbart im Umkehrschluss, wie wichtig Mobilität für die Selbstbestimmung von Frauen zu allen Zeiten und in allen Ländern sei, fasst Noder zusammen. Deshalb wollen wir bei Zuflucht Oberland e. V. Radfahren als CO2-freien Emanzipationsmotor für migrierte Frauen fördern. Migrantinnen, die schon einen Einstiegskurs absolviert haben, können bei uns ihre Fahrpraxis stabilisieren, mehr Fahrsicherheit im Realverkehr gewinnen, lernen ihr Rad selbst zu reparieren und dabei viel Spaß mit anderen Frauen erleben.
Das erste Treffen ist am Freitag, den 28. April 2023 um 16:00 auf dem Jugendverkehrsübungsplatz in Peißenberg. Alle Frauen, die Rückenwind suchen, bringen an diesem Tag ihr eigens verkehrssicheres Fahrrad sowie einen Helm mit und tragen weder Kleider noch Röcke. Auf geht`s!
Weitere Infos unter 0176 / 2345 48 18 oder über www.zuflucht-oberland.de.
Kerstin Hemme, Vorstand Zuflucht Oberland e. V.
*z. B. Dr. Martin Mendelsohn, in „Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift“ zitiert nach
https://www.spiegel.de/auto/fahrkultur/emanzipation-und-fahrrad-als-frauen-in-die-freiheit-fuhren-a-1298084.html
siehe auch https://www.emma.de/artikel/wie-die-frauen-das-fahrad-eroberten-339593, oder
https://www.diamantrad.com/blog/fahrrad-mittel-emanzipation/ u.a.
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