Seitdem aus der großen Parole der französischen Revolution »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit«, die uns die Demokratie von heute beschert hat, nichts mehr übrig geblieben ist, lohnt es sich trotzdem der Frage nachzugehen, wie das denn gekommen ist. Die Freiheit haben die Neoliberalen für sich allein gepachtet, seit es ihrer Theorieschule gelungen ist, weltweit alle Regelungen aus den Finanzmärkten zu tilgen – seither dominieren die Geldeliten und ihre Handlanger, die Banken, die Regierungen. Die Gleichheit wird als sozialistisches Gedankengut diffamiert und ideologisch bekämpft. Und die Brüderlichkeit durch Dressur zum Konkurrenzdenken von Klein auf als abartig hingestellt.
So nimmt es nicht Wunder, dass inzwischen auch die Gerechtigkeit ins Kreuzfeuer der Begriffsbesetzung geraten ist. Vergessen wir nicht: Es ist Wahljahr! Da reklamiert in ihrem Regierungsprogramm die SPD die „soziale Gerechtigkeit“ für sich, weil es seit anderthalb Jahrhunderten so gewesen sei. Die LINKE behauptet dasselbe und die Arbeitsministerin Frau von der Leyen behauptet flugs, dies sei ein Ur-CDU-Thema. Und Herr Westerwelle, FDP und Außenminister, fordert mehr „Chancen- und Leistungsgerechtigkeit“ ein. Sogar die Unternehmerverbände bemühen sich durch ihre Organisation »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) heftig darum den Begriff so zu definieren, dass er ihren Interessen dient. Daran kann man auch ablesen, dass wir wieder mitten in einer strukturierten Klassengesellschaft gelandet sind, obwohl wir wähnten, diese längst überwunden zu haben.
Die konkurrierenden Interessen dieser Klassen lassen sich prima argumentativ darstellen: Die Armen 22% in unserer deutschen Gesellschaft dürfen mit der Forderung nach „Verteilungsgerechtigkeit“ auf „Umverteilung“ klagen, die Forderung nach mehr Kindergeld wird mit „Familiengerechtigkeit“ begründet, so wie mit „Generationengerechtigkeit“ gleich ein ganzes Bündel Sozialabbau bemäntelt wird: Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, Absenken des Rentenniveaus und Privatisierung der Altersvorsorge (Riester-Rente). Die raffgierigen unter den Managern (ob Dax-Vorstand oder Klinikchefarzt) dürfen auf „Leistungsgerechtigkeit“ abheben bei ihrer Gehaltserhöhung, solange die Lohnabhängigen im Betrieb Gewinne erwirtschaften. Die Neoliberalen behaupten nach wie vor steif und fest, dass Lohnsenkungen und Sozialkürzungen Arbeitsplätze schaffen und damit „Chancengerechtigkeit“ hergestellt würde. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Verkündet ein Vorstandsvorsitzender Personal-Entlassungen, macht ihre Aktie einen Aufwärtssprung von einigen Prozentpunkten an der Börse, denn die Kosten der Arbeitslosigkeit trägt der Staat, die Allgemeinheit, zu dessen Finanzierung die Unternehmen am wenigsten beitragen. Beschwerden über Ungerechtigkeiten beim Parlament werden von der Politik abgewimmelt mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass man leider mangels Geld nicht alle Gerechtigkeiten bedienen kann.
Da lässt sich aber dann doch fragen: Wer trägt die Kosten der Krise (bis jetzt in Deutschland sind es mehr als 2 Billionen € zuzüglich der jährlichen Zinslast in zweistelliger Milliarden €-Höhe)? Warum sind die Geldvermögen so ungleich verteilt (1 tausendstel der Bürger besitzen 22,5%, ein Hundertstel ein Drittel, das oberste Zehntel zwei Drittel der saldierten Geldvermögen[1] und die untere Hälfte (!) der Bürger zusammen nur 1,4%? Warum verdienen Frauen ein Viertel weniger als Männer in gleicher Position? Wieso ist das Lohn- und Gehaltsniveau in den Ost-Bundesländern niederer als in den ehemaligen BRD-Ländern? Der Verteilungs-Gerechtigkeitsdiskurs fragt nicht nach den Ursachen der Ungleichheiten, nicht nach der Sinnhaftigkeit der Unsummen für die Bankenrettung. Wenn »der Markt« bedient und alles verteilt ist, erst dann wird vielleicht die Frage gestellt: Ist die Verteilung gerecht? – womit auch noch der Anschein erweckt wird, dass Gleiche auf Augenhöhe sich um ihren „gerechten“ Anteil am gemeinsamen Kuchen streiten würden.
Dabei gerät der Sozialstaat mit seinen inzwischen schwach gewordenen Umverteilungsbemühungen in die Kritik und wird als ungerecht (gegenüber den „Leistungserbringern“) angeschwärzt. Höhere Sozialabgaben seien nicht „leistungsgerecht“, die Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger arbeiten ja nicht, leisten also nichts und die 8,6 Millionen Niedrigverdiener zahlen auch keine Lohn-Steuern und tragen die Umverteilung nicht mit, sondern profitieren davon. Die heutige (liberal-konservative) Interpretation von „Sozialer Marktwirtschaft“ verletzt inzwischen das Gerechtigkeitsgefühl einer großen Mehrheit unserer Bürger in Deutschland und führt zu einem sich Abwenden von dieser Art an Demokratie. Die Arbeitgeber und ihre politischen Steigbügelhalter kämpfen auf breiter Front gegen Mindestlöhne, Aufstocken der Hartz-IV-Sätze und gleiche Entlohnung von Männern und Frauen und für die „Chancengerechtigkeit“, die begrifflich zu nichts verpflichtet und die Anerkennung einer „Leistung“ dem Wohlwollen der einzelnen Unternehmer anheimstellen. Denn durch gleiche Chancen entstehen noch lange nicht mehr Jobs. Eine Herabsetzung der Wochenarbeitszeit auf 35/30 Stunden hätte ganz andere Wirkung bezüglich neuer Arbeitsplätze.
Kümmert der Unternehmer sich einmal um Einzelheiten, dann stellt der Manager plötzlich fest, dass seine unverheiratete Sekretärin einen weitaus höheren Prozentsatz ihres Gehaltes an Steuern und Abgaben abgezogen bekommt, als er in seiner Einkommen-Steuererklärung von seinem zehnfach so hohen Jahresgehalt abführen muss. Und damit bleibt der Zusammenhang vom Ausspruch eines Armen in vollem Umfang bestehen: „Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich!“.
Herwarth Stadler
(↵ zurück zum Text)
- „Saldiert“ heißt, dass die Schulden/Kredite abgezogen worden sind von den Guthaben↵
Neueste Kommentare