Gemeinwohlökonomie – ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft: Ein gutes Leben für alle

Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) etabliert ein ethisches Wirtschaftsmodell. Das Wohl von Mensch und Umwelt wird zum obersten Ziel des Wirtschaftens.

Direktor Wilfried Knorr und Bürgermeister Hans-Jörg Birner bei ihren Vorträgen (Fotos: Sigi Müller)

Die Weilheimer Agenda 21-Gruppe und die Weilheimer Gemeinwohl-Ökonomie-Gruppe luden am 15. Mai zu einem Vortrag mit anschlie­ßender Diskussion nach Paterzell ein.

Gemeinwohl in der Bayerischen Verfassung

Nach der Begrüßung durch Antje Novoa (GWÖ Ammersee) und Brigitte Gronau (GWÖ Weilheim-Schongau) sprach der Wessobrunner Bürgermeister Helmut Dinter einleitende Worte. Er brachte den Anwesenden den Artikel 151 der Bayerischen Verfassung in Erinnerung: »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.« In der öffentlichen Wahrnehmung werden Bürgermeister häufig gut beurteilt, wenn sie viele Straßen gebaut oder große Rücklagen für die Gemeinde gebildet haben. Dinter fragte jedoch: „Wie kann ich das messen, was wir an Gutem für die Bürger tun?“ Er appellierte an die vielen Bürgermeister, Gemeinde- und Stadträte in der Zuhörerschaft, dass „wir gemeinsam mit gutem Beispiel vorangehen müssen“. Wessobrunn, Wielenbach und Peißenberg sind die drei Gemeinden im Landkreis WM-SOG, die diesen Weg schon gehen.

GWÖ und Diakonie

Wilfried Knorr, der Direktor des Diakoniedorfes Herzogsägmühle bei Peiting, berichtete über eigene Erfahrungen. Er stellte fest, dass die herkömmliche Finanzbilanz-Präsentation nichts über den ethischen Erfolg des Unternehmens, nichts über den Beitrag zum Gemeinwohl, nichts über die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsklima und schon gar nichts über die Glaubwürdigkeit von Diakonie aussage. Im Wirtschaften sollen die gleichen Prinzipien belohnt werden, die wir für unsere sonstigen Beziehungen als wertvoll erkennen: Vertrauen, Kooperation und Solidarität – statt Wettbewerb, Konkurrenz, unmenschliche Produktionsbedingungen um des materiellen Vorteils willen. „Das muss bei uns in den Herzen und Köpfen sein“, so sein Credo.

Gründe für ein Umdenken

85 % der Menschen halten das derzeitige Wirtschaftssystem nicht mehr für gerecht; nur 15 % glauben, daran könne man etwas ändern. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, ein Drittel der Bevölkerung droht vom Wohlergehen abgekoppelt zu werden. Die globale Umweltzerstörung schreitet schneller voran als prognostiziert, die globale Bekämpfung von Armut und Hunger ist eine große Herausforderung. Zurzeit ist der ökologische Fußabdruck der Menschheit so groß, dass wir flächenmäßig 1,5 Erden benötigen würden. In Westeuropa (und besonders in Deutschland) nehmen die psychischen Erkrankungen, die Burn-out-Phänomene in der Arbeitswelt und die Depressionen zu. Viele Menschen haben eine große Sehnsucht nach Überschaubarkeit in einer globalisierten Welt. Es entstehen regionale Einkaufsverbünde und Regional-Währungen; ein alternatives Konsumentenverhalten (Bio-Produkte) kommt in der Mitte der Gesellschaft an.

Motive für einen Wechsel

„Diese Wirtschaft tötet“, verkündete Papst Franziskus. Anders als seine Vorgänger verlangt er, die Ökonomie zu verändern. Diakonie gewinnt also an Glaubwürdigkeit, so Knorr, wenn sie nicht nur Geld verdient; sie verliert sogar an Glaubwürdigkeit, wenn sie sehr viel Geld verdient. Geld ist also nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck! Knorr fühlt sich zudem dem Auftrag seines Vaters verpflichtet, sich vor Menschen zu hüten, die mehr Geld aus Geld machen als aus ihrer Arbeit. „Die jungen Leute (im Alter von 30 bis 45 Jahren) sind hochaffin zu den GWÖ-Grundwerten. Man nimmt die Mitarbeiter mit und bindet sie an das Unternehmen.“

Gemeinwohl-Matrix

Diese ist ein Modell zur Organisationsentwicklung und Bewertung von unternehmerischen wie auch gemeinnützigen Tätigkeiten. Gemeinwohl-Themen (wie Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Mitentscheidung) werden inhaltlich beschrieben und Anleitungen zur Bewertung nach Gemeinwohlmaßstäben gegeben. Die Gemeinwohl-Matrix ist die Basis für die Erstellung eines Gemeinwohl-Berichts, einer umfassenden Dokumentation der Gemeinwohl-Orientierung einer Organisation.

Zertifizierung für erste Diakonie-Einrichtung bundesweit

Knorr berichtete, dass vor allem die Bereiche Einkauf, Mobilität und Energieversorgung dabei unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten auf den Prüfstand gekommen seien. Als konkrete Ergebnisse aus der GWÖ-Bilanz hat Herzogsägmühle beispielsweise Pappbecher in seiner Gastronomie abgeschafft, ein Leasing-Konzept für Mitarbeiterfahrräder aufgesetzt und eine Solartankstelle für zwei Elektroautos gebaut. Das Unternehmen nimmt »Mitarbeitergesundheit« stärker in den Blick. Ein Dorfrat sorgt für mehr Mitbestimmung. Demnächst gibt es einen GWÖ-Tag im Diakoniedorf mit den verschiedensten Workshops, z. B. für ein „enkeltaugliches Leben“.

Gemeinsam zum Wohle aller

Hans-Jörg Birner, 1. Bürgermeister (CSU) der GWÖ-bilanzierten Gemeinde Kirchanschöring im Landkreis Traunstein sprach über den Prozess der Gemeinwohl-Bilanzierung für Kommunen. Die Gemeinde mit ihren 3 450 Einwohnern und einer Fläche von 25,23 km² setzt sich aus 49 Ortsteilen zusammen. Kirchanschöring ist eine Gemeinde, die den Anspruch der kommunalen Selbstverwaltung und Selbstgestaltung ernst nimmt. Eingebettet in Regionalinitiativen, die durch viel Engagement getragen werden, finden sich immer wieder kreative Ideen und Wege der Umsetzung, um die Lebensqualität in der Gemeinde zu fördern und das Gemeinwohl zu stärken (z. B. G’wandladen – Kleidermarkt für jedermann).

Die Gemeinde ist eine der ersten Kommunen in Deutschland, die auf Basis der Gemeinwohlmatrix für Gemeinden ihre Bilanz erstellt hat. Dies ist eine freiwillige Leistung der Gemeinde. Zusätzlich zum Jahresabschluss und den Beschlüssen wird dadurch auch die Arbeit auf der Ebene der gelingenden Beziehungen und Kooperationen transparent dargestellt. Das wirtschaftliche und gemeinwohlorientierte Handeln der Gemeinde soll wieder mit den Werten und Zielen übereinstimmen, die auch in der Bayerischen Verfassung (Art. 3) bereits verankert sind: »Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl«.

Der entscheidende Denkanstoß kam von Christian Felber, Initiator der GWÖ-Bewegung, im Jahr 2016: Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht mehr anhand monetärer Faktoren wie Bilanzgewinn oder Bruttoinlandsprodukt gemessen. Die Werte in der GWÖ sind Deckung der Grundbedürfnisse, Lebensqualität und Gemeinschaft.

Der Bilanzierungsprozess erstreckte sich von November 2017 bis September 2018. Begleitet von zwei GWÖ-Berater*innen durchlief die Gemeinde Kirchanschöring als eine der ersten deutschen Pioniergemeinden den Prozess zur Erstellung der GWÖ-Bilanz. „Ich war bei allen Arbeitsgruppen (z. B. nachhaltige Beschaffung und Bauen) dabei, weil mir das eine Herzensangelegenheit ist“, so Birner.

Ziele beim Bilanzierungsprozess

Während der Bilanzierung wurde alles auf kompakte, übersichtliche Art und Weise in der Verwaltung zusammengefasst. Gemeinsame Ziele wurden definiert, gemeinschaftliches Arbeiten praktiziert. Zudem erfolgte eine Identifizierung mit den Themen – dies alles erzeugte eine Wertschätzung der eigenen Arbeit. „Es liegt an der Einstellung, wie eine Gemeinde arbeitet“, so Birner, „viele Leistungen sind schon jahrzehntealt. Die blinden weißen Flecken werden sich erst in der nächsten Bilanz niederschlagen.“

Das Leitbild »Leben und Wirtschaften in Kirchanschöring« wurde im Herbst 2014 vom Gemeinderat einstimmig beschlossen. Es stellt seitdem die Richtschnur des Handelns dar. Ziele sind u. a.: die Gemeinde geht verantwortungsvoll mit ihren Flächen um. Alle Aktionen sind auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.

Die Lebensqualität aller Bürger steht an erster Stelle.

Es liegt an den Gemeinderäten, ob sie die Beschlüsse umsetzen. Die Beschlüsse und deren Umsetzung dienen der Entwicklung der Menschen, der Gemeinschaft, der Region, der Erde. Sie generieren positiven Nutzen und entsprechen z. B. den Aspekten Diversität, Barrierefreiheit und Integration.

Bürgermeister Birner meinte, dass neue Gewerbeansiedlungen auch daraufhin überprüft werden sollten, ob die Betriebe gemeinwohl-orientiert handeln.

Umgesetzte Maßnahmen

Bei der Umsetzung von Baumaßnahmen wurden für die Planung des nächsten Projektes der gemeindeeigenen Wohnbaugesellschaft strenge Vorgaben in Bezug auf Nachhaltigkeit, Recyclierbarkeit und Lebenszyklusbetrachtung der Anlage festgesetzt. Neue Konzepte, ausgerichtet an alter ländlicher Baukultur, helfen Siedlungsflächen zu sparen. Die Bauweise: alles in Holz, aus nachwachsenden Rohstoffen, mit dezentraler Energieversorgung.

Fazit: Denkanstoß von Wilfried Knorr: „Es gibt intelligentere Denkmuster als nur »weiter so«.“

Irmgard Schreiber-Buhl, Schongau

Wer in der GWÖ-Gruppe Weilheim mitarbeiten möchte, ist herzlich dazu eingeladen. Die Gruppe trifft sich jeden 3. Mittwoch im Monat im Regionalzentrum St. Anna in der Waisenhausstraße 1 in Weilheim, Beginn 19.30 Uhr.

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