Eine indische Lektion ist mehr als nur mit den Fingern essen
Vor einigen Jahren machte ich eine Reise nach Indien. Ich war sehr neugierig auf die indische Lebensart und die indische Küche. In einem kleinen Restaurant konnte ich für ein paar Wochen mitarbeiten. Es wurde mir ein Bett in einer indischen WG mit gleichaltrigen Indern organisiert. Einmal erhielt ich dort beim Abendessen eine denkwürdige Lektion:
Wie üblich legten wir den Boden mit Zeitungen aus und nahmen Platz. Es gab Chapatis mit Gemüse-Curry und Reis mit Dal. Als wir begannen, gemütlich mit den Fingern zu essen, blickte mich einer aus der Runde plötzlich an und fragte: „Was denkst du: wem gehört das Essen hier eigentlich?“ Ich war ein wenig überrascht über die ungewöhnliche Frage. Aber da wir alle dafür ein paar Rupies bezahlt hatten sagte ich: „Nun ja, wahrscheinlich uns, oder? Wir haben doch dafür bezahlt.“
Er: „Ja stimmt. Aber was taten wir mehr, als ein paar Geldscheine dafür herzugeben.“
Ich: „Stimmt. Dann wird es wohl der Köchin gehören. Sie hatte damit mehr Arbeit als wir.“
Er: „Ja, ja, aber sie hat die Zutaten ja nun auch wiederum nur auf dem Markt besorgt.“
Ich: „Mhh…, nun in letzter Konsequenz müsste es dann wohl dem Landwirt gehören. Er hat es immerhin angebaut und geerntet. Oder?“
Er: „Ja sicher. Aber genau betrachtet kümmerte er sich ja auch nur um gute Wachstumsbedingungen für sein Gemüse – wenn auch zweifellos mit viel Mühe und Schweiß. Aber erzeugt hat er es im eigentlichen Sinn ja auch nicht. Wem gehört es dann wohl?“
Diese Frage blieb damals im Raum unbeantwortet stehen. Sie hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Vielleicht weil sie nicht schnell befriedigend beantwortet werden kann? Jedenfalls verlangt sie nach gedanklicher Weite, um ihren vollen Umfang zu entfalten. Wenn die Frage heute vor mir steht, bemerke ich, dass es sich um eine bedeutsame Frage handelt. Eine Frage die das Leben unmittelbar berührt. Die Frage weist auf eine innere Haltung hin, die Erich Fromm so wunderbar in seinem Buch »Haben und Sein« behandelt.
Kann ich auf dem Hintergrund dieser Frage Essen überhaupt »haben« bzw. besitzen? Oder ist es mehr ein dynamisches »Seins-Geschenk«? Ein zutiefst lebensnotwendiges und gleichzeitig beschwingt schmackhaftes Geschenk der Kräfte der Natur? Sonne und Regen kann niemand »haben«. Und dennoch wirken sie immerfort gemeinsam mit dem Erdreich am »Sein« der Lebensmittel.
Wie kann dieses »Sein« für uns beim Essen erlebbar werden? Bei der nächsten Mahlzeit können Sie sich vor ihrem inneren Auge vorstellen, was herauskommt, wenn Sie alle einzelnen Wachstumszeiten der Lebensmitteln zusammenzählen. Für einen einfachen Salat ergäbe sich: 2 Monate Salat, 2 Monate Karotten, 5 Monate Zwiebel, 12 Monate Essig, 6 Monate Olivenöl, 2 Monate Petersilie, 6 Monate Sonnenblumenkerne = 2 Jahre 11 Monate Wachstumszeit – Zeit bestimmt von Regen, Sonne, Wind und Pflege des Gärtners. Und in 5 Minuten ist er verspeist. Was für ein konzentriertes Elixier des Lebens!
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