„Ein unter Paragrafen und Ängsten begrabenes Land“[1]
Vor einigen Monaten habe ich mehrfach im OHA über die Arbeit ehrenamtlicher Asylhelfer und deren Erfahrungen berichtet (siehe OHA Nr. 419 und 420 vom Oktober bzw. November 2016). Es ging um die Durchführung von Sprachkursen, erste menschliche Kontakte und Orientierungshilfen. Seitdem hat sich für die Asylhelfer und die meisten der von ihnen betreuten Geflüchteten vieles verändert. Beide stehen vor ganz neuen Aufgaben, von denen im dritten Teil des Tagebuchs die Rede sein soll.
- Die meisten der ursprünglich von uns betreuten – etwa 120 – Geflüchteten leben heute nicht mehr in Lechbruck. Die bisherigen vom Landratsamt zugewiesenen Unterkünfte wurden aufgelöst, einige ihrer Bewohner wurden in ihre Herkunftsländer abgeschoben, andere erhielten einen – in aller Regel befristeten – Aufenthaltsstatus und müssen sich um eigene Wohnungen und Arbeit bemühen; viele werden in größere Unterkünfte im Landkreis verlegt, wo sie weiterhin auf eine Entscheidung über ihre Asylanträge warten müssen. Da heißt es Abschied nehmen, und es fließen bisweilen Tränen. Nicht nur heimlich und auch bei uns – haben wir doch viele unserer Schützlinge inzwischen ins Herz geschlossen. Vor allem den Kindern fällt es unendlich schwer, sich nun schon wieder von einer vertraut gewordenen Umgebung zu trennen, von Spielkameraden in Kindergarten, Schule und Nachbarschaft …
- Unser Asylhelferkreis steht vor neuen Aufgaben: Zum Beispiel, den Geflüchteten mit Bleiberecht beim Ausfüllen von Anträgen (Hartz IV, Kindergeld, Beihilfen usw.) zu helfen, ihnen die Anmeldeprozeduren beim Einwohnermeldeamt, Stromversorgern, Kindergärten und Schulen zu erleichtern und sie beim Abschluss von Miet-, Arbeits-und Kaufverträgen zu beraten. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist jetzt auch die Beschaffung und Ausstattung von Wohnungen. Wir durchforsten Anzeigenblätter und Tauschbörsen im Internet, telefonieren viel, führen unzählige Fahrten durch, um Möbel zu transportieren, bauen Küchen aus und wieder ein. Und schließlich müssen wir erhebliche Energie, Geld und Zeit aufwenden, um vor Gericht einen Bescheid des Bundesamtes für Migration anzufechten, als es darum ging, ob eine Familie mit drei kleinen Kindern in das »sichere Herkunftsland Afghanistan« abgeschoben werden darf (wo bekanntlich fast täglich Menschen bei Terroranschlägen ums Leben kommen).
- Für die meisten unserer Schützlinge stellt die deutsche Bürokratie eine ungeheure Herausforderung dar: Das, was sie gewohnt sind, was sie meisterhaft beherrschen und was es ihnen überhaupt erst ermöglicht hat, eine monatelange Flucht durch fremde Länder zu überstehen – nämlich zu improvisieren und sich irgendwie »durchzuwurschteln« – das hilft ihnen in ihrer jetzigen Situation in keiner Weise weiter. Immer wieder erleben wir, dass wichtige Bescheide, Terminsachen, Rechnungen und Mahnungen im »Bermudadreieck« einer Plastiktüte verschwinden– mit allen unangenehmen Folgen, die wir dann versuchen, wieder aus der Welt zu schaffen.
- Vor einiger Zeit brachte ich einer syrischen Familie ein Bilderlexikon mit, in dem Gegenstände des täglichen Lebens abgebildet und sowohl in arabischer wie in deutscher Sprache bezeichnet waren. Ich hatte mir gedacht, dass dies für die drei Kinder eine willkommene Hilfe sein könnte. Die Kinder aber schauten mich mit großen Augen an und erklärten mir, dass sie zwar Deutsch, aber Arabisch weder lesen noch schreiben können! (Der Vater konnte das Lexikon brauchen und nahm es dann an sich.) Es entspann sich eine Diskussion: Die Eltern haben Heimweh, vermissen ihre Heimat, ihre Freunde, sie wollen zurück nach Syrien, wenn dort wieder Frieden ist. Ganz anders die drei Kinder: Nein, sie wollen hier bleiben, fühlen sich wohl in Deutschland. Mein Gott, was tun sich da für Probleme auf, wie kann man die jemals lösen?
- „Wer zu uns kommt, muss sich integrieren!“, das fordern Politiker, das wünschen sich die Deutschen. Aber wie schwer das sein kann, darüber machen sich die wenigsten Gedanken: Zum Beispiel kann es – Gott sei’s geklagt – für einen 16-Jährigen aus Syrien ein schwerwiegendes Integrationshindernis bedeuten, nicht über ein Smartphone zu verfügen oder in gespendeten altmodischen Klamotten aus der Kleiderkiste unter Gleichaltrigen herumzulaufen. Und wie soll sich die junge Frau aus dem Iran integrieren, die hier allein lebt und fleißig Kurse besucht, der es aber aufgrund der »Wohnsitzauflage« nicht erlaubt ist, zu ihren Eltern nach Württemberg zu ziehen, wo ihr zudem eine Ausbildung zur Altenpflegerin in Aussicht gestellt wurde? Ein Beispiel wie dieses führt mir vor Augen, wie entmutigend es sein muss, dass bester Wille, Ehrlichkeit, Arbeits- und Lernlust – auch der Hunger nach Demokratie – nicht unbedingt weiterhelfen. Das größte Hindernis auf dem Weg zur neuen Heimat Deutschland ist wohl das Leben mit jahrelanger Perspektivlosigkeit, mit der ständigen Angst, am Ende doch abgeschoben zu werden. Diese Unsicherheit lässt Vermieter zögern, eine Wohnung an Menschen zu vermieten, die eventuell nach einem Jahr wieder ausziehen (müssen), das Gleiche gilt für Arbeitgeber, die bereit wären, Geflüchteten einen Arbeitsplatz anzubieten.
Das alles ist auch für uns Asylhelfer demotivierend, wir fühlen uns nicht selten von der Politik im Stich gelassen, die aus lauter Angst vor Rechtspopulisten von der anfangs lauthals verkündeten »Willkommenskultur« längst abgerückt ist. Zwar gibt es auf der Arbeitsebene noch zahlreiche MitarbeiterInnen in den Behörden, die mit uns Ehrenamtlichen gut kooperieren, aber es ist zu spüren, dass »von Oben« signalisiert wurde, den Geflüchteten das Leben möglichst schwer zu machen in der Hoffnung, dass sie durch ein Klima der »Abschiebekultur« veranlasst werden, Deutschland wieder zu verlassen.
Und so empfinde auch ich Deutschland gegenwärtig als „ein unter Paragrafen und Ängsten begrabenes Land“.
Wolfgang Fischer, Prem
(↵ zurück zum Text)
- Abbas Khider, in Berlin lebender deutsch-irakischer Schriftsteller↵
Neueste Kommentare