Auch nach Kattowitz tut sich nix

Wer sich als Erster bewegt, hat verloren

Ich habe mir in letzter Zeit öfters die Frage gestellt, wieso Politiker nichts Grundlegendes [1] gegen den Klimawandel unternehmen.

Alle scheinen wie gelähmt. Die meisten Politiker haben Kinder und Enkel. Es müsste also auch in ihrem Interesse sein, dass die Weichen richtig gestellt werden. Diese Menschen sitzen wesentlich näher an der Macht und könnten die Zukunft und das Schicksal ihrer Nachkommen direkt zum Positiven beeinflussen. Warum machen sie das nicht? Oder: Warum hat sich Angela Merkel, »die Klimakanzlerin«, vom Klimaschutz abgewendet?

  1. Die These
    Die Politiker aller Parteien in Deutschland riskieren ihren persönlichen Untergang und möglicherweise auch den Untergang ihrer Partei, wenn sie tiefgreifende Änderungen zur Rettung des Klimas durchsetzen wollen.
  2. Begründung
    2.1 Thomas Piketty und die gelben Westen
    Thomas Piketty, ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, wurde bekannt durch seine Forschung zu den Themen soziale Ungleichheit, Einkommensverteilung und Vermögensverteilung. Vor Kurzem hat er mit anderen Wissenschaftlern den »Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018« herausgebracht.[2] In diesem Bericht ist zu lesen, dass die Ungleichheit auch in Europa weiter zunimmt.
    Die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich ist auch unter dem Gesichtspunkt der wachsenden Ungleichheit und der Angst vor dem sozialen Abstieg zu sehen.
    Die Protestbewegung Gilets jaunes (Gelbwesten) hat sich im Oktober 2018 gebildet. Die Themen der Gelbwesten sind geringes Einkommen und soziale Notlage/Abstiegsangst. Es sind Franzosen, die hart arbeiten und denen am Ende des Monats dennoch nichts mehr bleibt. Der Auslöser der Proteste war eine geplante Ökosteuer auf fossile Kraftstoffe. Das trifft diese Bürger besonders hart. Menschen, die sowieso schon einen relativ kleinen ökologischen Fußabdruck haben und die es sich z. B. niemals leisten können in den Urlaub zu fliegen. Die Bewegung forderte u. a. die Streichung der Ökosteuer und hat damit den französischen Präsidenten Macron in Bedrängnis gebracht. Die Einführung der Ökosteuer wurde vorerst auf Eis gelegt.
    Auch in Deutschland ist die wachsende Ungleichheit ein Thema. Die Wirtschaft boomt und trotzdem sind laut »Armutsbericht 2018« in den alten Bundesländern mehr Menschen von Armut bedroht als vor 10 Jahren. Was passiert, wenn der Wirtschaftsboom zu Ende geht? Die Angst vor dem sozialen Abstieg geht auch in Deutschland um. Das erzeugt wachsenden Stress und Unsicherheit des Einzelnen.
    2.2 Stress im Alltag – ein Massenphänomen
    „Sechs von zehn Menschen in Deutschland fühlen sich gestresst.“ (Zitat aus »Entspann dich, Deutschland«, TK-Stressstudie 2016).[3]
    In Deutschland nimmt der Stress in allen Bereichen zu. Stress am Arbeitsplatz ist die Hauptursache. Viele Menschen arbeiten unter Hektik, bedingt durch ein hohes Arbeitspensum und zu enge Termine. Die wichtigen Themen außerhalb des Alltags wie z. B. der Klimawandel werden unter diesen Bedingungen von vielen Mitbürgern kaum wahrgenommen, oder es ist ihnen egal, da sie andere Probleme haben.
    2.3 Die persönliche Prioritätenliste
    Die oberste Priorität vieler Menschen ist es, den Tag zu überstehen und die anstehenden Probleme halbwegs zu lösen. Am Ende des Tages sind sie von der Arbeit geschafft. Die Wochenenden werden zur Regeneration genutzt. Da bleibt keine Zeit mehr, sich um globale Themen wie z. B. die Erderhitzung zu kümmern.
    Viele Mitmenschen haben überhaupt keine Chance, die Gefahr der Erderhitzung richtig einzuschätzen. Im Gegenteil, Berichte, die die Dramatik des Klimawandels mit all den negativen Begleiterscheinungen zeigen, müssen verdrängt oder schön geredet werden, da sie sonst zu einer zusätzlichen psychischen Belastung führen würden. Das führt zu Meinungen wie „Der Klimawandel ist natürlich und nicht vom Menschen verursacht“ oder „Wird schon nicht so schlimm kommen“ oder „Ich kann sowieso nichts machen“ etc.
    Unter diesen Bedingungen haben bestimmte Interessengruppen leichtes Spiel. Der Widerstand von Seiten der Bürger bleibt gering.
    2.4 Lobbyarbeit der Interessengruppen
    Die »geballte deutsche Wirtschaft«:
    Folgendes war in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Juni 2018 zu lesen:[4]
    Angela Merkel hat schon 2013 eingeräumt, dass sich in der EU echter Klimaschutz nicht „gegen die geballte deutsche Wirtschaft durchsetzen lässt“.
    Die Lobbyarbeit gegen den Klimaschutz begann schon in den 1970er und 80er Jahren. Zitiert aus »Klimafakten.de«:[5]
    „Seit den 70er und 80er Jahren, so der Kern der Vorwürfe, wusste der US-Erdölkonzern Exxon darüber Bescheid, dass die Verbrennung fossiler Energieträger eine gefährliche Klimaveränderung bewirken würde. Doch statt nach alternativen Geschäften zu suchen oder die Öffentlichkeit zu informieren, baute Exxon die Erdölförderung massiv aus und finanzierte Desinformationskampagnen, die gezielt (und gekonnt) Zweifel an den Erkenntnissen der Klimaforschung säten, wie unter anderem die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes belegte.”
    Auch aktuell machen die Lobbyisten weiterhin starken Druck. In der Süddeutschen Zeitung vom 19. September 2018 findet sich ein Bericht mit der Überschrift „So wollen Lobbyisten strengere Klimaziele verhindern.“[6]
    Solch ein offensichtlicher Lobbyismus (vgl. auch den Dieselskandal) führt zu einem steigenden Misstrauen der Bürger gegenüber der Politik.
    2.5 Keine Experimente
    Es liegen keine Erfahrungen vor, wie der Übergang zu einer dekarbonisierten Gesellschaft am besten bewältigt werden kann. Es ist vorauszusehen, dass während dieses Prozesses einiges schiefgehen wird. Diese Ungewissheit macht Angst. Die wachsende Ungleichheit zum Beispiel wird ja heute auch nicht bekämpft, warum sollte es in den Zeiten des Klimaschutzes besser werden? Es ist eher mit dem Gegenteil zu rechnen. Die Bewegung der Gelbwesten ist ein Beispiel dafür. Es besteht der Verdacht, dass die Mittelschicht den größten Teil der Kosten für den Klimaschutz aufgebürdet bekommt. Die Parteien mit den Motto »keine Experimente« werden vermehrt Zulauf bekommen.
    Es ist ein Risiko für die Politiker, diesen Weg zu gehen, immer mit der Gefahr des Scheiterns und der Abwahl. Daher werden sie so lange wie möglich zögern, die ersten großen Schritte in diese Richtung zu gehen.
    2.6 Fazit:
    Diejenigen Politiker, die tiefgreifende Änderungen zur Rettung des Klimas durchsetzen wollen, können wir mit Wanderern im Hochgebirge vergleichen, die eine gefährliche Gradwanderung von einem Gipfel zum anderen unternehmen. Sie müssen gegen den starken Wind der Lobbyisten ankämpfen und sie fürchten die Ängste der Bürger, die den Weg glatt und gefährlich machen. Ein Fehltritt und die Wanderer stürzen in den Tod.
    Die Politik in Deutschland wird in den nächsten Jahren NICHTS Wesentliches (siehe Index 1) für die Rettung des Klimas unternehmen.
  3. Nur dann …
    ➡ wenn immer mehr und mehr Schüler, ähnlich wie Greta Thunberg[7], für den Klimaschutz protestieren würden
    ➡ wenn Lehrer/Professoren ihre Schüler/ Studenten auffordern würden, für ihre Zukunft zu kämpfen
    ➡ wenn Demonstrationen für eine bessere Zukunft von immer mehr und mehr Menschen besucht werden würden
    ➡ wenn Wissenschaftler aller Fakultäten die Bevölkerung aufrufen würden, für den Klimaschutz auf die Straße zu gehen
    ➡ wenn die Menschen auch in ihrem Alltagshandeln zeigen würden, dass es ihnen ernst ist mit dem Klimaschutz, indem sie selbst anfangen, etwas zu ändern: wie z. B. unnötige Autofahrten zu vermeiden, weniger zu fliegen, weniger Fleisch zu essen etc.
    … nur dann hätten wir eine Chance.

Klaus Jäger, Penzberg



Quellenangaben / Hinweise
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  1. Erklärung von »nichts Wesentliches«, »nichts Grundsätzliches«: Eine wesentliches Maßnahme wäre z. B. die effektive Bepreisung von CO2. Siehe den sehr guten Vorschlag von Ottmar Edenhofer (PIK/MCC) und Christoph M. Schmidt (RWI). Link: http://www.rwi-essen.de/media/content/pages/publikationen/rwi-positionen/pos_072_eckpunkte_einer_co2-preisreform.pdf Dieser Vorschlag wurde abgelehnt: „Das Problem ist nur, dass die Front der Gegner politisch stärker ist. Die CSU lehnt das Vorhaben genauso ab wie eine Mehrheit bei Union und SPD. Die Koalitionsspitzen fürchten, dass höhere Energiesteuern, wie gut sie auch begründet sein mögen, den Frust der Deutschen über ihre Volksparteien nur noch steigern würden. So wie es derzeit in Frankreich zu studieren ist, wo Bürger in gelber Weste Barrikaden gegen steigende Benzin- und Dieselpreise errichten.”(Text aus https://www.rwi-essen.de/presse/rwi-in-den-medien/181201_Spiegel_Absurdistan)
  2. F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saez, G. Zucman
    Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018. Der Bericht liegt vor unter: https://wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf
  3. Entspann dich, Deutschland, TK-Stressstudie 2016 https://www.tk.de/resource/blob/2026630/9154e4c71766c410dc859916aa798217/tk-stressstudie-2016-data.pdf
  4. Süddeutsche Zeitung 19. Juni 2018: Petersburger Klimadialog – Angela Merkel übt sich in Selbstkritik. Siehe: https://www.sueddeutsche.de/politik/petersburger-klimadialog-angela-merkel-uebt-sich-in-selbstkritik-1.4022664
  5. https://www.klimafakten.de/meldung/wie-shell-sein-wissen-ueber-den-klimawandel-geheimhielt
  6. Süddeutschen Zeitung vom 19. Sept 2018: „So wollen Lobbyisten strengere Klimaziele verhindern“ Siehe: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/klimawandel-lobby-klimaziele-1.4134469
  7. Informationen über Greta Thunberg siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Greta_Thunberg
    Greta Thunbergs Rede in Kattowitz siehe https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/klimagipfel-in-kattowitz-greta-thunberg-haelt-ehrlichste-rede-59055336.bild.html

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