Wie stärkt man den sozialen Zusammenhalt angesichts der populistischen Herausforderungen?
Professor Dr. Norbert Frei und Professor Dr. Stephan Lessenich im moderierten Gespräch zu einem brandaktuellen Thema im evangelischen Gemeindehaus Peißenberg
Asyl im Oberland hatte in seiner Veranstaltungsreihe zum 5-jährigen Bestehen zwei hochkarätige Gesprächsteilnehmer zum Thema »Demokratie unter Druck« gewinnen können.
Prof. Dr. Norbert Frei ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller Universität in Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Norbert Frei veröffentlicht regelmäßig Artikel in der Süddeutschen Zeitung, so auch den Artikel »Verachtung – die liberale Demokratie steht unter Druck« am 3.2.2018, durch den diese Veranstaltung initiiert wurde. Norbert Frei gehört zu den renommiertesten deutschen Historikern der neuesten deutschen Geschichte.
Prof. Dr. Stephan Lessenich lehrt seit Oktober 2014 an der LMU München, er ist dort amtierender Direktor des Instituts für Soziologie, zudem Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Er engagiert sich vielfältig an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik, ist u. a. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von attac Deutschland und des Netzwerks Grundeinkommen. Sein 2016 erschienenes Buch »Neben uns die Sintflut« vermittelt einen sehr kritischen Blick auf die globalen Auswirkungen unserer Externalisierungsgesellschaft.
Das Gespräch wurde moderiert von Ingeborg Bias-Putzier, der Mit-Koordinatorin des Unterstützerkreises Asyl in Weilheim im Netzwerk »Asyl im Oberland« und Susanne Seeling, Integrationslotsin bei der Ehrenamtskoordination Asyl im Landkreis Weilheim-Schongau. Der folgende Beitrag fasst die wesentlichen Antworten des Gesprächs zusammen.
Über 70 Zuhörer füllten den Raum bis auf den letzten Platz und hörten Antworten auf Fragen der Moderatorinnen aus wissenschaftlicher Sicht zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die es in diesem Ausmaß seit über 30 Jahren nicht mehr gegeben hat (Lessenich). Die größte soziale Bewegung der Bürger nach 1980 ist von der Politik missachtet worden. Im Laufe der Jahre 2016 bis heute wurde sie immer weniger unterstützt und es wurde den ehrenamtlichen Helfern die Arbeit durch bürokratischen Aufwand sowie kontraproduktive Entscheidungen wie zum Beispiel das Arbeitsverbot massiv erschwert bzw. unmöglich gemacht. Begleitet wird dies alles von einer Rhetorik der demokratischen Parteien – welche man nicht anders als „ein den Verirrten Hinterherlaufen“ (gemeint ist die AfD, die Verfasserin) bezeichnen kann, so Frei. Und Lessenich ergänzte, dass es ein Trugschluss sei, wenn man glaube, dadurch Wähler in die Mitte zurückholen zu können.
Die Demokratie befindet sich derzeit in einer Krise, der soziale Zusammenhalt fehlt, welcher jedoch für die Zukunft der Demokratie von äußerst großer Bedeutung ist. Neoliberales Wirtschaften in den letzten Jahrzehnten hat das Seine dazu beigetragen, den sozialen Zusammenhalt zersetzt und den Individualismus gefördert. Professor Frei zitierte in diesem Zusammenhang die frühere englische Premierministerin Margret Thatcher, die, angesprochen auf die gravierenden Folgen ihrer Politik des massiven Staatsabbaus, erwiderte: „There’s no such thing as society“ – also „Gesellschaft gibt es gar nicht“. Eine gravierende Fehleinschätzung.
Die AfD sorgt auch für eine Art sozialen Zusammenhalt, allerdings in einem ausschließenden, nach innen gerichteten Sinn, weil er nationalistisch gedacht ist und nur exklusiv vergeben wird, indem man Flüchtlinge davon ausschließen will. Damit zusammen hängt auch ein gelerntes, individuelles egoistisches Wirtschaften, das nach individueller Maximierung des materiellen Reichtums strebt und aus dem eine Angst vor Verlust bzw. die Forderung nach noch mehr Sicherheit hervorgeht. Die herrschenden Parteien – besonders in Bayern – bedienen diese Forderung und spielen damit den rechten Strömungen in die Karten, sind sich beide Professoren einig.
Beide Gesprächspartner meinten zudem, dass rechte Wähler nur bedingt bei den jungen „Abgehängten und Mittellosen“ zu suchen sind. Laut soziologischen Befragungen gerade im Osten Deutschlands geht diese Zielgruppe schon lange nicht mehr zur Wahl, da sie sich sowieso nicht gehört fühlen. Das rechte Wählerpotenzial liegt folglich mehr im bürgerlichen und wohlhabenderen Milieu. Sicherheit und Bewahrung des erreichten Wohlstands sind hier sehr wichtige Kriterien, die man bedroht sieht, auch wenn es gar keine konkreten Anhaltspunkte für eine Bedrohung durch Asylsuchende gibt.
Missstände im sozialen Wohnungsbau, in der Bildungspolitik, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, um einige Bereiche zu nennen, gab es schon bevor die Flüchtlinge kamen. Die Flüchtlinge sind nicht Ursache für die Fehlentwicklungen, aber diese werden auf sie projiziert und sie werden zu Unrecht dafür verantwortlich gemacht. Lessenich spricht zudem von einer Art Wohlstandsverwahrlosung, bei der jeder nur noch nach seinem eigenen Wohlstand schaut.
Ein Rezept, wie es gelingen könnte, Menschen aus ihrer politischen Trägheit zu locken, hat er allerdings auch nicht. Enorme Bedeutung hat der Bildungsbereich, der aufklärende Tendenzen in Richtung Globalisierung, Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung zu wenig berücksichtigt.
Genauso wichtig sind unsere Politiker in ihrer Vorbildfunktion, mit der sie oft zu leichtfertig – bewusst oder unbewusst – umgehen: Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt 25 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen auf ein Wohnhaus einer türkischen Familie in seinem Kommentar »Wie der Hass entstand« in der SZ vom 28.05.2018: „Die Täter hinter den Tätern waren Politiker, die gehetzt haben. […] Man kann die Wahlerfolge der AfD als Bestrafung von CSU, CDU und SPD betrachten; da ist die Saat von damals aufgegangen.“
Eine große Rolle spielen zudem die modernen Medien, die sozialen Netzwerke. Das Netz ist einerseits hilfreich zur schnellen Verbreitung von Information, auf der anderen Seite aber auch Plattform für Hasstiraden und persönliche Angriffe auf Andersdenkende in einer nie dagewesenen Form. Um Aufmerksamkeit zu erzielen, werden bevorzugt negative Beispiele ins Netz gestellt, dort ausgebreitet und ausführlich diskutiert. Über das enorme Engagement der Ehrenamtlichen wird eher wenig publiziert. Das liegt auch an den ehrenamtlichen Helfern selber, die sich und ihre Arbeit viel offensiver und öffentlichkeitswirksamer propagieren müssten.
„Sie reden zu wenig über das Gute, was sie tun – Sie müssen aktiv darüber sprechen – mit Selbstbewusstsein“, fordert Professor Frei die Ehrenamtlichen auf.
„Wir sind alle KOLLEKTIV gefragt, nicht individuell! – es besteht eine wechselseitige Verbundenheit. Engagieren Sie sich persönlich, treten Sie in der Öffentlichkeit rassistischen Thesen entgegen, werden Sie politisch!“, so die Professoren.
Professor Frei gab den Ehrenamtlichen im evangelischen Gemeindehaus zudem noch den Rat mit auf den Weg, Politiker zum Gespräch einzuladen, allen voran Alexander Dobrindt als Politiker vor Ort. „Sollte er nicht kommen, tragen Sie es ihm nach“, fügte Professor Frei noch hinzu.
Man konnte wohl kaum erwarten, dass an diesem Abend fertige Lösungen präsentiert wurden. Vorschläge zur Aktion haben Frei und Lessenich allerdings gemacht und es ist nun an uns Ehrenamtlichen und an uns allen, politisch aktiver zu werden. Wir von Asyl im Oberland haben mit dieser Veranstaltung einen ersten Schritt in diese Richtung getan.
Unser Fazit ist: Wir müssen Selbstbewusstsein gewinnen und mit diesem Selbstbewusstsein unsere Stimme erheben. Staatliche Rationalität ist nicht der einzige Maßstab, es gibt auch eine zivilgesellschaftliche Vernunft, eine Pluralität der Vernunft. Wenn der politische Wille da ist, kann es ein »Gemeinsam« geben. Das ist Demokratie.
Ingeborg Bias-Putzier, Weilheim
Neueste Kommentare