Ein weiteres, aber anderes Stück Haitis soll dieses Mal, abseits von „meinen“ Bergen und Bauern ein Thema im urbanen Raum beleuchten. Den folgenden Text habe ich zusammen mit einer deutschen Freundin aus Port au Prince erstellt. Im Rahmen ihrer Arbeit für ein nationales Menschenrechtsnetzwerk besucht sie auch Zeltlager und Slums und hat nach einem dieser Besuche einen längeren Text zum Thema Wohnen erstellt. Während wir diesen gemeinsam recycelt und umgebaut haben, kam unser Gespräch auch auf die Frage der Legitimität von öffentlichwirksamen Medienkampagnen des Präsidenten Martelly (er kommt aus der Showbranche). Eine letztgültige Schlussfolgerung konnten wir nicht finden. Doch wir waren uns einig, dass Martelly das Showhandwerk exzellent beherrscht und es nachvollziehbar ist, dass er diese Kunst nutzt. Die Frage bleibt, ob es eine Linie gibt, hinter der man Populismus Missbrauch nennen darf? Wie viel Show darf sein?
Eine Verschwendung von 1,4 Millionen US-Dollars sei die Verschönerung des prekären Viertels mit Namen Jalousie, das sich über dem Stadtzentrum an einer Flanke den Berg hoch zieht. Die Macher betonen, es stünde ein integriertes Sanierungskonzept dahinter, das nach und nach auch in den vielen anderen Bidonvilles (wörtlich und trefflich »Kanister-Stadt«) Anwendung finden soll oder kann. Neben dem Anstrich von 1.100 Fassaden sollen Zugänge gepflastert und weitere Maßnahmen ergriffen werden, um die Lebensbedingungen dort zu verbessern.
Augenwischerei sei es, meinen kritische Stimmen, nicht erdbebensichere Häuser von außen bunt anzustreichen, damit sie attraktiver anzuschauen sind. In der Tat liegt das Quartier genau im Blickfeld der neuen Luxushotels »Oasis« und »Best Western«. Soll der Anblick von üblicherweise zementgrauen Elendsbehausungen der Kundschaft in ihren klimatisierten Zimmern nicht zugemutet werden? »Misère en couleur« betitelt denn auch eine Zeitung recht zutreffend ihren Artikel über dieses aktuelle Kapitel zum Thema »Wohnen in Haiti«.
Schon vor dem 12. Januar 2010 fehlten im Land 700.000 Wohnungen, besonders in der dicht besiedelten Hauptstadt. Aufgrund einer immer noch stark wachsenden Bevölkerung und der anhaltenden Landflucht entstanden und entstehen immer neue Slums. In ihnen fehlt es an den elementarsten Sozialdiensten. Arbeitslosigkeits- und Kriminalitätsraten sind hoch, auf die rapide Umweltzerstörung wird keine Rücksicht genommen. Viele Slums entstanden in Lagen, wo es keine wirtschaftlichen Interessen gibt: an Hängen, die zu steil sind für eine geregelte und bezahlbare Bebauung und an den meernahen Flussniederungen, wo regelmäßige Überschwemmungen den Grundstücksverkauf uninteressant machen. Da der Staat schon so vielen seiner Aufgaben nicht nachkommt, hat er in der Vergangenheit auch in die Siedlungsentwicklung kaum eingegriffen. Einen nationalen Plan zur Beschaffung von Wohnraum hat es nie gegeben. Wenn all dies im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Erdbeben geändert werden soll, ist es eigentlich kein Wunder, wenn dieser sehr langsam vorankommt.
Die enorme Herausforderung, die Obdachlosen des Erdbebens menschenwürdig unterzubringen ist längst nicht gemeistert. Als der dritte Jahrestag der Katastrophe (12. Januar 2013) nahte, setzte die Regierung alles daran, die inzwischen heruntergekommenen Zelte von den öffentlichen Plätzen verschwinden zu lassen. Lange genug hatte man sie in den Medien gesehen und die Regierung dafür kritisiert. Doch immer noch sind 320.000 Menschen in provisorischen Unterkünften.
Laut Meldung von Menschenrechtsbeobachtern leben derzeit 73.000 Lagerbewohner/innen in ständiger Angst vertrieben zu werden, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen. Zehntausende hat man bereits verjagt, keine Statistik hält nach, was aus ihnen geworden ist.
Wenn heute angesichts von Slum-Anstrich-Aktionen strukturelle Verbesserungen gefordert werden, fragt man sich auch, ob der nachträgliche Anschluss der Viertel an Strom, Wasser und Kanalisation stadtplanerisch betrachtet überhaupt bezahlbar ist. Denn bei geregelter Besiedlung richtet sich die Bebauung nach den kürzest möglichen Versorgungslinien. Wer erst bebaut und dann die Versorgung einrichtet, zahlt ganz sicher deutlich mehr. Darüberhinaus kann die Bevölkerung der Bidonvilles keinen Beitrag zu den Kosten der Erschließung leisten. Die Grundstücksbesitzer? Die gibt es oft nicht, denn nicht selten werden Parzellen einfach besetzt, sobald sie weder bebaut noch bepflanzt werden. Ein gültiges Katasterverzeichnis ist etwas, das die Politik lange schon lieber nicht in Angriff nimmt. Denn das würde begangenes Unrecht zu Tage bringen und Enteignungen für Einzelne bedeuten, eine unpopuläre Maßnahme.
Dem Großteil der aktuellen Regierungspolitik spricht man lediglich kosmetische Wirkungen zu. Liest man die Kommentare der größten Tageszeitung »le Nouvelliste«, findet man häufig Zeilen, die die offensichtliche Diskrepanz zwischen Schein und Realität kritisieren und effektive Änderungen fordern. Doch spiegeln solche Leserkommentare die Wahrnehmung einer Bevölkerung, die mehrheitlich gar nicht lesen und schreiben kann? Und darf ein Präsident, der sich auf den Wahlkampf vorbereitet, nicht auch ein wenig Show betreiben?
Haitianier lieben Farbe, das zeigen nicht nur die aufwändig bemalten Sammeltaxis. Die Fahrzeuge sind voller technischer Mängel, aber extrem selten sieht man Autos, die nicht wenigstens ein Basisdesign aufweisen. Heißt Anmalen der maroden Kisten in dem Fall Zupinseln der Mängel?
Oder ist Farbe nicht auch echtes Gestaltungsmittel und trägt zur Lebensfreude und zum Erhalt der Würde der Besitzer bei? Dann also »Farbe der Armut zum Trotz«?
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