»Armut in Deutschland« – wie gerecht sind wir?

Ein Abend im Ballenhaus der Stadt Schongau

Ingeborg Bias-Putzier, Dörthe Friess, Jörg Jovy, Susanne Seeling beim Diskurs im Ballenhaus (Foto: Renate Müller)
Ingeborg Bias-Putzier, Weilheim

Das Solidaritätsbündnis von »Asyl im Oberland« hat 2019 die Veranstaltungsreihe »Menschenrechte, Menschenwürde und wir?!« ins Leben gerufen. Die Mitglieder des Solidaritätsbündnisses kommen größtenteils aus dem ehrenamtlichen Engagement für geflüchtete Menschen. Auf Basis des teilweise langjährigen Engagements entwickelte sich darüber hinausgehend eine hohe Sensibilität für gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen. Es ist wichtig, sich für den Erhalt unserer pluralistischen Gesellschaft einzusetzen und sich mit den Schwachen in der Gesellschaft zu solidarisieren. Mit ihrer Veranstaltungsreihe laden die Initiator*innen bereits seit März zu einem breiten gesellschaftlichen Diskurs ein.

Am 15. Juli fand im Schongauer Ballenhaus ein moderiertes Gespräch zum Thema »Armut in Deutschland« statt:

Referentin Dörthe Friess, seit Oktober 2018 stellvertretende Geschäftsführerin der Tabaluga-Kinderstiftung in Peißenberg, davor langjährige pädagogische Leiterin und stellvertretende Zentrumsleiterin des »Lichtblick Hasenbergl« im Münchner Norden.

Referent Jörg Jovy, Journalist und Buchautor mit den politischen Themenschwerpunkten: Rechtsstaat und  Menschenrechte, Demokratie, Wirtschaft und Technologie, Soziales und Gesundheit. Herr Jovy sagte sein Kommen spontan zu, da der ursprüngliche Gesprächspartner, Professor Stephan Lessenich, aus familiären Gründen kurzfristig verhindert war. Die Moderation übernahmen Susanne Seeling und Ingeborg Bias-Putzier, Mitglieder des Solidaritätsbündnisses.

Wie sieht Armut aus?

Zunächst erklärte Susanne Seeling, wie überhaupt »Armut« bemessen wird: Mit der Armutsquote wird Armut am Einkommensniveau eines Landes bemessen. Deswegen wird sie auch als relative Armut bezeichnet. Laut statistischem Bundesamt ist armutsgefährdet, wer über weniger als 60 % des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) verfügt. Der Ansatz des Medianeinkommens ist, im Gegensatz zum Durchschnittseinkommen, sachgerecht, europaweit üblich und zudem ein besserer Indikator für die Verteilung als das Durchschnittseinkommen.

Anschließend schilderte Dörthe Friess, wie ein Leben in Armut aussieht. Durch ihre langjährige berufliche Tätigkeit weiß sie sehr genau, was Kinderarmut bedeutet, wie viel Stress Armut bei Kindern und deren Familien auslöst. 2,7 Millionen oder 21 % aller Kinder und Jugendlichen wachsen in Deutschland in Armut auf. Das ist fast jedes 5. Kind. Je länger sich ein Leben in Armut verfestigt, desto schwieriger ist es, dort wieder herauszukommen. Eine kaputte Waschmaschine wird zum großen Problem; die Kinder werden nicht zu einem Geburtstagsfest eingeladen, weil sie kein Geschenk mitbringen können; sie selber können niemanden einladen, weil es die Wohnverhältnisse nicht zulassen bzw. sie sich schämen. Stigmatisierung und Ausgrenzung sind die Folge.

Jörg Jovy ergänzte in der weiteren Diskussion, dass die Armut in Deutschland kontinuierlich wächst, trotz langanhaltender Phase des Wachstums und deutlichem Abbau der Arbeitslosigkeit. Obwohl Arbeit vor Armut schützen soll, zeigt die Statistik einen anderen Trend.

Armut wird zum persönlichen Scheitern – bestenfalls erklär- und entschuldbar durch sozialpsychologische Erklärungsversuche.

Armut – ein strukturelles Problem

Aber Armut ist nicht selbstverschuldet, sondern entsteht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse – rund die Hälfte der Alleinerziehenden ist arm. Solche hohen Zahlen deuten immer auf ein strukturelles Problem hin und nicht darauf, dass die oder der Einzelne daran schuld sind. Risikofaktoren sind: Arbeit im Niedriglohnsektor, Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Trennung, Migrationshintergrund, Alleinerziehend.

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt: Das Armutsrisiko wird in den nächsten 20 Jahren stark zunehmen, jeder 5. Senior könnte betroffen sein. Trotz Wirtschaftswachstum und Rekordbeschäftigung gibt es immer mehr Arme. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass der Anteil der armen Rentner*innen und Erwerbslosen stark gestiegen ist – Hartz IV und Rentenreformen zeigen Wirkung.

Das sind beispielsweise jene, die nur im rasant wachsenden Niedriglohnsektor Arbeit finden bzw. gefunden haben; Mütter, die wegen ihrer Kinder aussetzen oder nicht mehr richtig in den Beruf finden. Menschen aus den neuen Bundesländern, deren Erwerbsbiografie die Wiedervereinigung durcheinanderwirbelte.

Die Idee, die noch den Hartz-Reformen zugrunde lag, dass Armut quasi kostenneutral bekämpft werden könne, indem mehr Personen in Arbeit vermittelt werden, hat sich nicht bewahrheitet. Mit Hartz IV wurde der Druck auf Arbeitslose erhöht, auch sehr gering entlohnte Tätigkeiten zu übernehmen. Das Prinzip »fordern statt fördern« ist in Armutsfällen unangebracht und bringt gar nichts, darüber waren sich Friess und Jovy einig. Dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die einen Vollzeitjob haben und davon nicht leben können, Eltern, die ganztags arbeiten und ihre Familien trotzdem von Armut bedroht sind – ein untragbarer Zustand. Wenn man über Armut spricht, darf man das Phänomen selbst nicht hinter Zahlen und Erklärungsversuchen verschwinden lassen. Der Einzelfall darf nie aus den Augen verloren werden.

Dörthe Friess ergänzte zudem: „Das Gefühl der Zugehörigkeit, etwas geben zu können, ist enorm wichtig. Etwas nicht leisten zu können, was erwartet wird, löst Scham und Angst aus.“

Die Verantwortung des Staates

Frau Bias-Putzier berichtete, dass der Armutsforscher Christoph Butterwegge vorschlägt, den Solidaritätszuschlag nicht abzuschaffen, sondern zugunsten armer Kinder umzuwidmen. Damit ließe sich, so sagt er, eine Großoffensive gegen Kinderarmut finanzieren; die fast 20 Milliarden Euro, die er pro Jahr einbringt, werden größtenteils von Besserverdienenden, Kapitaleigentümern und Konzernen aufgebracht.

Friess und Jovy waren sich in ihren Antworten einig: Der Staat darf nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Natürlich wären 20 Mrd. Euro zur Bekämpfung der Kinderarmut nicht schlecht. Es geht jedoch um eine Veränderung und eine andere Einstellung der Gesellschaft zu Armut.

Der Solidaritätsgedanke muss weiter entwickelt werden. Der Staat darf sich nicht, wie in der Flüchtlingshilfe, darauf verlassen, dass viele Ehrenamtliche seine Defizite ausgleichen. Dass es die »Tafeln« überhaupt in Deutschland geben muss, ist ein Armutszeugnis für unser Land.

Die Ausweitung staatlicher Leistungen für diejenigen, die sie am meisten brauchen, scheint der vielversprechendste Weg zu sein. Frau Friess meinte zudem, dass der Staat gezielt schwache Gebiete besonders unterstützen und nicht alle Gelder gleichmäßig verteilen solle.

Wer die Kinderarmut bekämpfen will, muss etwas für die Eltern tun. Ausbau von beitragsfreier Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen und ausreichend Freizeitangebote vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Teil der kommenden Generation perspektivlos bleibt.

Kein Export von Armut

Jörg Jovy brachte noch folgenden Aspekt ein: Wir dürfen Armut nicht exportieren. Die Globalisierung zwingt uns, auch Armut global zu denken und zu sehen und sie als globales, strukturelles Problem zu begreifen. Beispiele: Auslagerung von Produktion in Niedriglohnländer, Migration innerhalb der EU (Bulgarien, Rumänien etc). Armutsbekämpfung darf deshalb nicht alleine national stattfinden, sondern global. So komplex die Änderungen für die bestehenden Sozialsysteme in Deutschland und in Europa auch sein mögen.

Insofern wurde hier ein Bogen zum Ausgangspunkt der Arbeit von »Asyl im Oberland« geschlagen.

Wie lässt sich Armut bekämpfen?

Noch weitere Fragen wurden im Lauf der Diskussion erörtert: Etwa die Frage, wie sich Einkommensarmut wirksam bekämpfen ließe; beispielsweise durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens – dafür Abbau von Steuervergünstigungen (was Jovy befürwortet), der Einführung einer Kindergrundsicherung oder auch eines höheren Mindestlohns. Unter reger Beteiligung des Publikums (etwa 70 Personen waren anwesend) wurden einige Forderungen formuliert: Wohnungsbau als staatliche Pflichtaufgabe. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Investitionen in eine Infrastruktur der sozialen Daseinsvorsorge. Vereinbarung und Kontrolle international verbindlicher Arbeitsstandards. Unbürokratische Hilfe, etwa die Abschaffung des Kinderzuschlags in seiner derzeitigen Form oder auch die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 54 %. Ein Teilnehmer regte auch die Anwendung des »Königsteiner Schlüssel« für Kommunen an. Zur Erklärung: Im Königsteiner Schlüssel ist festgelegt, wie die einzelnen Länder der Bundesrepublik Deutschland an gemeinsamen Finanzierungen zu beteiligen sind. Der Anteil, den ein Land danach tragen muss, richtet sich zu zwei Drittel nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl (Quelle: wikipedia).

Ein versöhnlicher Abschluss

Bei vielen negativen Aspekten rund um das Thema »Armut« gibt es durchaus auch Erfolge, wie Frau Friess aus ihrer Tätigkeit beim »Lichtblick Hasenbergl« zu berichten wuss­te. Kinder und Jugendliche, die es trotz widrigster Umstände geschafft haben, eine erfolgreiche Ausbildung und sogar ein erfolgreiches Studium zu absolvieren. Beispiele, die Mut machen und zeigen, wie wichtig Begleitung, Vermittlung von Vertrauen und Wertschätzung, das Aufzeigen von Perspektiven, von Möglichkeiten ist. Ein schöner Abschluss eines interessanten, aufschlussreichen Abends.

Ingeborg Bias-Putzier, Weilheim

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