Abschied von der Normalität?

Herwarth Stadler

Herwarth Stadler

Da stellt sich zu allererst die Frage: „Was ist normal?“ Auf unser Befinden im Heute und Jetzt angewandt ist es bestimmt der gesellschaftliche Bezugsrahmen, in dem wir unser Leben eingerichtet haben. Doch auf welche Rahmenbedingungen ist heute noch Verlass? Ist nicht alles im Wandel?

Wenn ich zurückdenke an meine Lebenserfahrungen: Vor über achtzig Jahren hat mir Herr OL Ganzenmüller an der Volksschule in der Herrengasse nahe dem Isartor in München mit dem Tatzenstock den Untertanen einzubläuen versucht (mein Ringfinger der linken Hand hat eine bleibende Narbe als ewige Erinnerung davongetragen), danach wurde ich indoktriniert und geschult fürs Vaterland mein junges Leben hinzugeben; aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause geflohen, galt es auf Trümmern ein volljährig gewordenes junges Leben aufzubauen. Da ist mir die einzig geliebte Frau meines Lebens über den Weg gelaufen und hat meine Unrast gebändigt: Nur in selbst gewählten Gemeinschaften sind wir stark! Bewusst wähle ich die Mehrzahlform, denn die technologische Entwicklung hat uns heute in total vernetzte globale Welten hin eingestellt. (Arbeits-, Freizeit-, Sport-, Spaß-, Geistes- und andere Welten).

Die gesellschaftlichen Heilsideologien haben alle im vergangenen Jahrhundert versagt: angefangen von der Adels-(Eliten-)herrschaft, die uns den I. Weltkrieg mit über 12 Millionen Toten bescherte, und dem nachfolgenden Faschismus mit seiner perversen deutsch-nationalen Rassenideologie, in dessen Gefolge der II. Weltkrieg ausbrach, 60 Millionen Menschen das Leben kostete und den europäischen Kolonialismus beendete, über den Sozialismus kommunistischer Prägung, der von Nationalökonomie nicht viel verstanden hatte und die Ost/West-Konfrontation zu zementieren versuchte, bis hin zum neoliberalen Finanzkapitalismus, der derzeit alles tut, sich selbst ad absurdum zu führen, weil er unfähig ist, selbstkritisch seine Theoriebasis auf Fehlkonstruktionen zu hinterfragen und uns derzeit von einer Krise in die nächste reitet. Ja sogar unser westliches Demokratieverständnis der repräsentativen Volksherrschaft gerät ins Wanken, weil religiöse Fanatiker-Organisationen offen legen, dass die in die Zukunft weisenden Volks-Herrschaftsformen noch immer nicht gefunden zu sein scheinen. Was tun und was nicht lassen?

Ich denke, dass wir gut beraten wären, die vorhandenen besseren gesellschaftlichen Modelle auf ihre Zukunftsfähigkeit kritisch zu überprüfen und von unten, von den Gemeinden ausgehend mit tastenden Schritten über die Region basisdemokratisch unser Gemeinwesen bis hin zur Welt-Ökonomie Gemeinwohl orientiert neu aufzubauen. Die finanzielle Staatsschuldenkrise zwingt uns letztendlich einerseits zurückzukehren zu den Allmende-Gedanken unserer Vorväter, weil mir anders ein Neuanfang mit den juridisch festgezurrten einseitig begünstigten Eigentumsideen des 19. Jahrhunderts unmöglich erscheint. Das auf geschätzt 360 Billionen € betragende Finanzkapital hat eine solche Machtfülle in wenigen Händen zusammengetragen, dass ein 60 Billionen € großes Welt-Sozialprodukt niemals unter den juridisch festgezurrten Prämissen verzinsen, geschweige denn die ebenso hohen Kreditverpflichtungen tilgen kann.

Auf welche in die Zukunft weisenden Wege ich gekommen bin? Wir müssen alte Tugenden neu entdecken: Solidarität, d. h. der Stärkere hilft dem Schwächeren, die Jungen den Alten, die mit mehr Intelligenz Ausgestatteten fördern alle, die auf dem Weg sind, Anwendungswissen zu erwerben, und alle bekämpfen in sich den alltäglichen Egoismus in der Erkenntnis, dass wir nur in der Gemeinschaft stark genug sind, die von Menschen gemachten Probleme der bevorstehenden Zukunft mit möglichst minimierten Schwierigkeiten einer Lösung entgegen zu führen. Basisdemokratisch ist die Genossenschaftsidee nicht nur auf der ökonomischen Ebene des Zusammenlebens, sie könnte auch für die regionale Selbstversorgung von steigender Bedeutung werden. (Regionalgeld, Tauschring, Energieerzeugergenossenschaft usw.). Regionalgeld ist zinslos, fördert die einheimischen Erzeuger und wirkt antiinflationär. Energieerzeugergenossenschaften wirtschaften ohne Profit und dienen selbstlos dem Umweltschutz. In unserer oberbayrischen Nachbarschaft funktioniert seit Jahren vieles davon.

Engagieren wir uns, machen wir jeder für sich und in Gemeinschaften die ersten Schritte einer noch nicht eindeutig erkennbaren aber lebenswerteren Zukunft entgegen: ausprobieren und sich der Tragfähigkeit vergewissernd, kritisch hinterfragend und erkennbare Fehler ohne Häme korrigierend, nicht zaudern, sondern mutig voranschreiten in der Gewissheit, dass, wer stehen bleibt, bereits nach kurzer Zeit droht abgehängt zu werden. Gestalten wir unsere Zukunft miteinander.

Herwarth Stadler

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