Immer wieder stehen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TiSA im Mittelpunkt linker Diskussionen – auch im OHA. Aber bei realistischer Betrachtung muss man davon ausgehen, dass sie alle »durchgewinkt« werden. Der sozialdemokratische deutsche Wirtschaftsminister steht an der Spitze der Winker. Dabei sind diese Abkommen nur die Spitze des Eisberges. Wir befinden uns in Wahrheit mitten in einem tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft. Auch wenn noch nicht alle Länder gleich betroffen sind, so sind die Veränderungen doch global zu sehen. Die auch bei uns bereits erkennbare Spaltung der Gesellschaft in die vielen »unten« und die wenigen »oben« ist eines der Ergebnisse dieses Wandels.[1] Und damit die da unten nichts merken, gibt man ihnen rechtzeitig Feindbilder, wie die Flüchtlinge und die Griechen. Das hat schon immer funktioniert. Die gnadenlosen Leserbriefe zeigen den geistig-moralischen Zustand der Gesellschaft! Dazu kommen die alten Märchen vom Tellerwäscher und vom Schmied des Glücks. So wird den Menschen klar gemacht, dass sie selbst an ihrem Elend schuld sind. Besonders gern geglaubt werden diese Märchen im unteren Mittelstand, dort wo die Absturzgefahr am größten ist.
Konzerne wie die Post AG oder die Lufthansa gründen jetzt eigene Billiglohnunternehmen, um eines Tages allen Beschäftigten nur noch den geringstmöglichen Lohn bezahlen zu müssen. Leiharbeiter, die modernen Sklaven, übernehmen Stammarbeitsplätze, und ganze Fertigungsvorgänge werden über sog. Werkverträge abgewickelt. Auf den Baustellen schuften Rumänen und Bulgaren, die bei Sub-Sub- Subunternehmen im Ausland angestellt sind und froh sein müssen, wenn sie überhaupt Lohn erhalten. Tausende Scheinselbständige kämpfen Monat für Monat ums Überleben und im Internet versteigern Menschen ihre Arbeitskraft. Der billigste erhält den Zuschlag.
In unseren Medien erscheinen Monat für Monat neue Beschäftigungsrekorde. Dabei betrug die tatsächliche Arbeitslosigkeit im Juni dieses Jahres 3.501.522 (und nicht 2.711.187, wie gemeldet), weil rund 790.000 Menschen herausgerechnet wurden. Über die Qualität der Arbeit sagt die Statistik ohnehin nichts aus. Auch die Empfänger von Niedrigstlöhnen fließen in die Statistik ein, ebenso wie befristete Arbeitsverhältnisse und Teilzeitstellen. Dass man staatliche Leistungen in Anspruch nehmen muss, obwohl man Vollzeit arbeitet (sog. Aufstocker), war, ist und bleibt ein Skandal. Die Reallöhne stagnieren seit einem Jahrzehnt, auch wenn ab und zu ein kleines Plus zu verzeichnen war. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind vom Wachstum ausgeschlossen. Das zeigt auch der stetig steigende Reichtum der Oberschicht. Die »Industrie 4.0«, also die 4. industrielle Revolution, wird diese Entwicklung noch drastisch verstärken.
Nun wird vielleicht mancher Leser angesichts des Autors fragen: Wo bleiben denn die Gewerkschaften? Ja, wo bleiben sie denn? Die Kraft der Gewerkschaften ist eingeschränkt. Nur in Branchen mit ausreichender Mitgliederzahl kann überhaupt der Kampf aufgenommen werden. Aber am Beispiel des jüngsten Arbeitskampfes bei der Post AG zeigt sich, dass die Kraft nicht ausreicht. Die Billiglohnableger waren nicht zu verhindern. „Unternehmerische Freiheit“ nennt der Postvorstand das.
Im Untergrund läuft die Aktion »Union-Bashing«, d. h. Betriebsratswahlen zu verhindern und vorhandene Betriebsräte auf jede mögliche Art und Weise loszuwerden. Hier ist eine ganze Riege spezialisierter Anwälte am Werk (siehe SPIEGEL Nr. 28, S. 76ff).
Letztlich geht es um die totale Machtübernahme durch die Kapitalinhaber resp. die Finanzwelt. Einmal mehr zum Exempel: Griechenland! Hier ist gerade ein wesentlicher Punkt aus TTIP realisiert worden: Alle Gesetze müssen vor der Beratung im Parlament von »Experten« auf ihre Kapitalismustauglichkeit überprüft werden. Die marktkonforme Demokratie von Frau Dr. Merkel ist Wirklichkeit geworden.
Wer werden die Verlierer sein? Nicht unbedingt die Unterschicht, bei der nicht mehr viel zu holen ist. Zunächst wird die untere Mittelschicht zur Ausbeutung freigegeben. Dort müssen die Einkommen sinken, damit die Renditen wachsen können. Betroffen sind vom gut ausgebildeten Facharbeiter und Angestellten bis zu Lehrern, Anwälten und Krankenhausärzten alle, deren Einkommen über dem Durchschnitt liegt. Solange diese Bevölkerungsschicht in dem Glauben lebt, sie sei unentbehrlich, ist Widerstand nicht zu erwarten. Natürlich findet diese Entwicklung nicht so auffällig statt, dass der sprichwörtliche Otto N. davon etwas merkt.
Der Kapitalismuskritiker Prof. Jean Ziegler bezeichnet die agierenden Politiker als „Handlanger des Kapitals“. Wer nicht spurt, wird weggeputscht. Aber selbst wer der Erpressung nachgibt, wie Alexis Tsipras, hat keine politische Überlebenschance.
Noch steht Deutschland ganz unten auf der Liste. Vorher sind noch andere dran, etwa Frankreich. Aber wenn Otto N. das Spiel bemerkt, ist es schon zu spät.
Hans Hahn
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- Daten zur aktuellen Vermögensverteilung finden sich bei Thomas Piketty, S. 583 – siehe Buchbesprechung auf Seite 11↵
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