Warum stellen die Familien der (kapitalistischen) Wirtschaft keine Rechnung?

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Herwarth Stadler

Da jammert man darüber, dass wir Deutschen ein »aussterbendes« Volk seien und in 15 bis 20 Jahren zu wenige Arbeitskräfte der Wirtschaft zur Verfügung stünden, um die Abgaben zu erwirtschaften, die zur Finanzierung der Altersrenten der Elterngeneration benötigt werden. Auf der parlamentarischen Bühne wird dies Schauspiel »Jung gegen Alt« nicht zum ersten Mal inszeniert und in den Medien breitgetreten. Warum? Weil man befürchtet, es könnten höhere Sozialversicherungs-Beiträge von den (armen) Unternehmen gefordert werden.

Jetzt mal kurz nachgedacht: In der betrieblichen Kalkulation werden alle Kosten, wie Material- und Kapital-, auch die Lohn und -nebenkosten, die Zinsen und die Bodenrente in die Preisfindung einbezogen. Die Preise bezahlen die Verbraucher. Und wer sind die Verbraucher? Die Erwerbstätigen und Rentner. Die wenigsten Kapital-Unternehmen von heute haben zur beruflichen Fachausbildung der Beschäftigten und für die Erziehung der Kinder bis zur Volljährigkeit Kosten übernommen. Warum? Weil in unserem Gesellschaftsmodell traditionell die Familiensorgezeit nur als »nicht-monetär« anerkannt ist; die Unternehmen freut das, weil sie, ohne angemessen mittels ausreichend hoher Löhne und Gehälter, sowie Steuern und Abgaben dazu herangezogen zu werden, die »Ernte« (Profitsteigerung) einbringen können. So ein sechsstelliges €-Geschenk in Form qualifizierter Erwerbstätiger können sie inzwischen sogar teilweise munter ausbeuten. Dabei ist in einer ARTE-Dokumentation 2013 über die Kosten der Kinder in einem Mittelstandshaushalt als monetarisierte Familienleistung je Kind ein Betrag von über 250.000 € inklusive Wohnen und Taschengeld, jedoch ohne im Einzelnen ermittelter monetisierbarer Eltern-Sorgezeit, festgestellt worden. Zusammen wäre das also ein Wert von einer halben Million Euro!

Im vergangenen Jahrhundert ist es den organisierten Beschäftigten gelungen, im Zuge der gemeinsamen Anstrengungen nicht nur einen langen Jahresurlaub durchzusetzen (von 2 Tagen bis 1 Woche auf 30 Werktage = 6 Wochen), sondern auch die Wochen-Arbeitszeit schrittweise von 60 bis 72 Stunden (Jahrhundertwende) auf zuerst 48 (1919), dann in den 60er Jahren auf 44 und in den 1970ern auf 40 Wochenstunden, zuletzt auf unter 35 Stunden (Autoindustrie 32 h, 4-Tage-Arbeitswoche) bei zumeist vollem Lohnausgleich zu vermindern. Und das bei einer Bezahlung für Beschäftigte, die es ermöglichte, dass eine Familie ohne Luxus (eigenes Auto) davon leben konnte. Mit der politisch endgültigen Durchsetzung der neoliberalen Wirtschaftstheorie wurde die »Profitmaximierung« das Leitziel der Ökonomie mit zahlreichen Kollateralschäden, die allein die Berufstätigen zu tragen hatten. Das bedeutete, dass der Einzelne meist nicht mehr so viel verdienen konnte, um damit seine Familienkosten menschenwürdig zu finanzieren. Die Unternehmens-Ökonomie verlangt inzwischen, dass ihr Profit mehr als verdoppelt, ja verdreifacht wird zulasten derer, die produktiv arbeiten, denn die Geldwirtschaft hat das Sagen im Gemeinwesen an sich gerissen.

Machen wir die (nur mit niederen Ansätzen) belastete Rechnung auf: Da sich die Unternehmen alles bis ins kleinste Detail der betrieblichen Kalkulation mit den Preisen bezahlen lassen, stellen wir eine Rechnung aus für die von den Familien aufgewendete bisher nicht-monetarisierte Arbeitszeit. Da im allgemeinen Verständnis Hausarbeit »nur« eine qualifizierte Hilfstätigkeit sei, heißt es, ist sie in unserer Berechnung »nur« einen besseren Mindestlohn von 10 € wert; Pflege-/Erziehungsarbeit ist einem qualifizierteren Beruf und somit in dieser Berechnung 14 € pro Stunde wert. Bei einem studierenden Kind kommen in 6 Jahren noch etwa 900 h Pflege- und 1 800h Haussorgedienst-Stunden dazu, das sind 12.600 € + 18.000 € = rund 30.000 € mehr, insgesamt also aufgerundet 265.000 € für eine/n Hochqualifizierte/n. (Siehe Tabelle!)

Tabelle Pflege und Betreuungszeit

Die finanzierten Sachausgaben der Familien für Ernährung, Wohnen, Kleidung, Teilnahme am kulturellen Leben usw. werden nicht eingerechnet; öffentliche Kassen steuern Kindergarten, Schul- und zugehörige Sach- und Personalkosten bei (in dieser Aufstellung nicht enthalten, weil diese an anderer Stelle monetarisiert sind).
In Zahlen: 11.826 h x 14 €/h + 6.935 h x 10 €/h = 165.564 € + 69.350 € = 234.914 € für einen beruflich qualifizierten Nachwuchs, der mindestens 45 Lebensjahre mit 40 – 68.000 Lebens-Arbeitsstunden tätig sein wird.
Bei einem studierenden Kind kommen in 6 Jahren noch etwa 900 Stunden Pflege- und 1.800 Stunden Haussorgedienst dazu, das sind 12.600 € + 18.000 € = rund 30.000 € mehr, insgesamt also aufgerundet 265 000 € für eine/n Hochqualifizierte/n.

Mit diesem »Geschenk« der abhängig Beschäftigten können die Unternehmungen weiter leicht wuchern. Sie nehmen ja bereits intensiven Einfluss auf die Bildungsinhalte für sich in Anspruch, indem sie einfach seit Jahren erklären, dass viele Schulabgänger nicht »berufsreif« seien, d. h. zu wenig auf die ständig mit der Technisierung wachsenden Anforderungen der Berufswelt vorbereitet wären. Selbst die in drei bis vier Jahren zu finanzierende Qualifizierung zu bezahlen, sehen sie sich wegen der »Globalisierung« jedoch nicht in der Lage; sie überlassen das liebend gern den sogenannten Mittelstands-(Familien-)unternehmen, dem sie die Ausbildungskosten aufhalsen und dann die qualifiziertesten jungen Mitarbeiter/innen abwerben, die danach nur mehr in wenigen Wochen für ihre Betriebsbedürfnisse spezialisiert werden müssen. Dadurch haben die Kapitalunternehmen noch nie in den letzten Jahrzehnten angemessen zur Finanzierung der Berufsqualifizierung beigetragen – weder durch Bezahlung familiengerechter Löhne und Gehälter (wie im 20. Jahrhundert), noch durch eine Bezahlung mittels kostengerechter Steuer- und öffentlicher Abgaben-Entrichtung. Sie erpressen den Staat (das sind wir alle) mit vorgeschobenen Arbeitsplatz-Argumenten (… „dann verlegen wir einfach unsere Produktion in Billiglohnländer“ oder „wir wandern mit unserem Firmensitz eben in einen Niedrig-Steuer-Staat aus“). Dass durch »legale« Steuergesetzeslücken, Bilanz­manipulation mit Auslandstöchtern und (durch jährlich zigtausende Selbstanzeigen teilweise aufgedeckten) Schwarzgeldkonten inzwischen an die (geschätzte) 160 Milliarden € Steuereinnahmen verloren gehen, ist ja in den letzten Wochen durch die Medien allgemein bekannt geworden.

Und das soll eine demokratische (wie es unsere Bayerische Verfassung und auch das Grundgesetz fordern), dem Gemeinwohl, also allen und nicht nur wenigen Prozenten der Bürger dienliche Wirtschaftsordnung sein? – die gerecht jedem zuteilt, was er durch persönliche Lebens-Arbeitsleistung anteilig erbracht hat? – und nicht durch »arbeitendes« Geld für sich als arbeitsloses Einkommen »privatisiert« hat?!

Ernüchternd ist für unser heutiges Thema das jüngste Urteil des BVG zur Häuslichen Pflegeleistung von Familienangehörigen, in dem es laut TV-Nachrichtentext selbstverständlich sei, dass die Vergütung für dieser Art familiärer Arbeitsaufwendungen (Pflegeleistungen für Eltern) weit unterhalb der beanspruchten Pflegesätze kommerzieller Pflegevereinbarungen liegen dürfe –, weil »nicht vergleichbar« im Ausbildungsstandard. Dass aber pflegende Töchter meist nur mehr mit reduzierter Teilzeit zum eigenen Familieneinkommen in einem qualifizierten Beruf beitragen können und selbst in die Altersarmutsfalle dadurch geraten, ist anscheinend für die Richter kein anerkennenswertes Argument. Mit dem angemessenen Entgelt könnten sie z. B. die entstehende Lücke ihrer eigenen Altersvorsorge durch freiwillige Beiträge in die Sozialversicherung auffüllen.

Herwarth Stadler

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