Liebe Berufsdemonstranten, liebe Modernisierungsverhinderer, liebe Querulanten, liebe Event-Protestierer, liebe Rentner, liebe Kommunisten, liebe Ewiggestrige, liebe Wutbürger – liebe Träger des Wortes des Jahres 2010!
Ganz Deutschland hat sich inzwischen von uns anstecken lassen – weltweit wird über den „Stuttgarter Protest“, „den schwäbischen Widerstand“ geredet, gestritten, diskutiert. Er steckt an, er animiert und inspiriert – weil der Streit um S21 für so viel mehr steht als nur für S21! Es ist auch, wie die Agenda 2010 es war, ein Kampf um die Beschaffenheit unserer Gesellschaft, ein Kampf darum, wie unser Gemeinwesen in der Zukunft aussehen soll! Es geht also um nicht weniger – als um alles!
- Gegen ein auf Egoismen beruhendes Wirtschaftssystem – das das Gemeinwesen ausbluten lässt!
- Gegen die drohende Privatisierung weiter Teile der Öffentlichkeit!
- Gegen eine Reduktion der sozialen Komponente der Marktwirtschaft!
- Gegen rücksichtloses Wirtschaftswachstum!
- Gegen den zerstörerischen Umgang mit Natur, Denkmalschutz und Stadtentwicklung!
- Gegen das Gerede von Schnelligkeit – welches nur eine weitere Metapher dafür ist, dass die Ökonomie inzwischen die Herrschaft über unser Leben und unsere Lebensqualität erlangt hat!
Und diese Grundsätzlichkeit, diese Repräsentanz, hat uns 2010 mit teilweise über 100.000 Demonstranten die Kraft und die Energie gegeben, einen solchen Druck auszuüben, dass wir am Ende des Jahres die sogenannte Schlichtung und den sogenannten Untersuchungsausschuss erstritten haben! Wir haben die Projektbefürworter zur Beweispflicht gezwungen!
Heraus kam eine für sie deprimierende Faktenklärung – mit niederschmetterndem Ergebnis: Das Zitat „bestgeplantes Projekt“ hat kein taugliches Betriebskonzept!
S21 ist außerdem viel zu teuer, voller Mängel im Detail, und ohne zusätzlichen Nutzen für die Bahnkunden. Der Faktencheck wurde also mit den besten denkbaren Noten mehr als bestanden!
Nur noch Uninformierte und Ignoranten können jetzt noch von einem demokratisch legitimierten Projekt sprechen.
Es ist nun hinreichend bewiesen – und das ist wichtig, denn es wird immer als Behauptung abgetan –, dass entscheidende Fakten unterschlagen wurden, und dass sich fast alle Voraussetzungen, unter denen S21 beschlossen wurde, komplett verändert haben!
Und dann kam der Hammer – der Schlichterspruch des Orakels Geißler.
Als wenn der Faktencheck überhaupt nicht stattgefunden hätte! (…)
Aber sei’s drum. Stuttgart 21 überlebt also nur mit »plus«. Das bringt zwar keine Vorteile, ist nach wie vor zu teuer, aber dafür wird’s jetzt ja noch teurer!
S21-plus heißt nämlich vor allem ein Plus an Kosten – Geld kann aber auch in Stuttgart nur einmal ausgegeben werden!
Wenn Geißlers Plus-Bedingungen konsequent umgesetzt werden würden, dann würde dieses unsinnige Projekt noch unwirtschaftlicher werden, dann käme eine noch schlechtere Qualität, eine noch inakzeptablere Leistungsfähigkeit dabei heraus, dann wäre das Projekt wahrscheinlich tot! Und deshalb werden die Projektbefürworter natürlich nichts davon umsetzen!
Sie instrumentalisieren lediglich die Schlichtung! Das kann man am sogenannten Stresstest leicht erkennen. Dieser Stresstest soll jetzt nämlich durch die Bahn selber gemacht werden! Obwohl dies ausdrücklich anders vereinbart war!
Das wäre so, als wenn man Silvio Berlusconi zum Vorsitzenden einer Ethik-Kommission machen würde, die Korruptionsfälle aufdecken soll!
Der Stresstest ist im Übrigen völlig überflüssig – den hat es Anfang der Siebziger schon gegeben, da war der damalige Kopfbahnhof um zirka 40 Prozent leistungsfähiger als der heutige Kopfbahnhof, da unter anderem auch die S-Bahnen noch oben fuhren. Diesen Wert wird ein wie auch immer gebauter Durchgangsbahnhof niemals erreichen! (…)
Aus: Montagsdemo am 10. Januar 2011
Volker Lösch ist Regisseur am Staatstheater Stuttgart. Er kritisierte auch den brutalen Polizeieinsatz. Löschs Rede wurde mehrmals durch Zurufe der Demonstranten gegen die Landesregierung (»Lügenpack«!) ergänzt.
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