Gedanken zur Patientenverfügung

Eine sehr persönliche Geschichte
vom Lebenlassen und Sterbenlassen – und den Jahren dazwischen

Die ersten Patientenverfügungen vor vielen Jahren waren kurz und knapp. Ein einziger Satz darüber, dass bei aussichtsloser Lage keine lebensverlängernden Maßnahmen eingeleitet werden sollen, und dann vielleicht noch die Angabe einer Person, die man gegebenenfalls als Betreuer möchte.

Genau so ein Papier hatte ich auch von meiner Mutter, als sie Anfang 2005 einen Schlaganfall erlitt. Sehr schnell kam die Frage auf: Magensonde ja oder nein, und der Arzt legte mir nahe, mich umgehend um die gesetzliche Betreuung zu kümmern, damit ich diese Entscheidung auch treffen darf.

Eine Entscheidung, die mir nicht leicht gefallen ist. Eigentlich wollte meine Mutter ja nicht an Schläuchen hängen, aber wie konnte ich wissen, ob die Lage wirklich so aussichtslos war. Ein Arzt sagte mir, man wisse nicht, ob Funktionen nur durch die Schwellung im Gehirn beeinträchtigt seien oder dauerhaft. – Ich ließ die Magensonde legen.

Nach vielen Wochen war dann klar, das Bewusstsein kommt langsam wieder zurück, aber es bleibt die halbseitige Lähmung und eine Sprachstörung. Das bedeutete, meine Mutter nahm Anteil an allem, was um sie herum passierte und was man ihr erzählte. Sie lachte und weinte, freute und ärgerte sich. Aber die Worte, die aus ihrem Mund kamen, hatten nichts mit dem zu tun, was sie eigentlich mitteilen wollte. Sie sagte: »weiße Katze«, »weiße Wolke«, »schöne Worte«, manchmal auch einen langen Satz aus vielen aneinandergereihten Worten. Am Tonfall konnte ich erkennen, war es eine Frage oder eine Aufforderung. Mit der entsprechenden Handbewegung gelang es mir dann auch immer öfter zu erraten, ob ich z. B. das Fenster öffnen oder schließen sollte oder was sonst so für ein Problem bestand. Aber meine Mutter konnte mir nie mehr etwas erzählen. Schlimm war das für mich besonders, wenn ich merkte, dass sie irgendetwas belastete, doch ich konnte nicht herausfinden, wer oder was sie so geärgert hatte.

Die Magensonde wurde nach einem halben Jahr wieder entfernt, da sich die Schluckstörung durch intensive Therapie so weit gebessert hatte, dass eine normale Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme wieder möglich war. Durch die halbseitige Lähmung konnte sie jedoch nur im Bett liegen oder im Rollstuhl sitzen.

In diesem Zustand lebte sie 12 Jahre im Pflegeheim.

In den Anfangsjahren fragte ich mich oft, vor allem dann, wenn meine Mutter sehr traurig war: „Hätte sie vielleicht lieber sterben wollen? Hätte ich sie sterben lassen sollen?“ Doch das Weinen wurde weniger und es rückten mehr und mehr positive Augenblicke in den Vordergrund.
Die Freude über Blumen, Sonnenschein, Tiere und alte Bekannte, auf die wir bei langen und kurzen Spazierfahrten mit dem Rollstuhl trafen.
Das Strahlen in ihrem Gesicht, wenn Familienmitglieder zu Besuch kamen. Vor allem die vielen neugeborenen Urenkel und die Ururenkelin, die in diesen Jahren dazukamen, machten sie sehr glücklich.
Die Begeisterung, mit der sie Lieder sang. Denn das funktionierte. Lieder sind nicht in dem Teil des Gehirns gespeichert, in dem das Sprachzentrum sitzt, sondern im emotionalen Teil des Gehirns. Und dieser Bereich funktionierte einwandfrei und überwog jetzt deutlich den rationalen Teil.

Und so sagte ich immer öfter zu Menschen, die die Situation meiner Mutter als sehr bedauernswert empfanden: „Es ist nicht nur traurig. Wir lachen auch sehr viel.“ Und wenn sich jemand lobend darüber äußerte, wie viel Zeit ich mit meiner Mutter verbringe, dann sagte ich: „Ich nehme auch sehr viel für mich mit.“

Nicht nur, dass es auch mir gut getan hat, so viel spazieren zu gehen oder in der Sonne zu sitzen, ich machte auch Erfahrungen, die ich sonst nie gemacht hätte.
Ich erfuhr, wie viele Hindernisse es für Rollstuhlfahrer bei uns gibt.
Ich besuchte die Orgelkonzerte in der Basilika in Altenstadt wegen meiner Mutter und merkte erstaunt, dass das auch mir sehr gefällt.
Fremde Menschen sprachen uns an, und manchmal ergab sich daraus eine lange interessante Unterhaltung.
Im Krankenhausgarten erzählten mir oft Patienten ihre Ängste und Sorgen.
Es war, als würde meine im Rollstuhl sitzende Mutter die bei uns sonst zwischen fremden Menschen übliche Distanz verschwinden lassen.

Auch meine emotionale Beziehung zu meiner Mutter veränderte sich deutlich. Einerseits war ich wieder viel mehr ihr Kind, auf der anderen Seite war sie aber durch die Verantwortung, die ich für sie übernommen hatte, auch irgendwie mein Kind. Dinge, wie ihre Geburtstagsbriefe lesen, was früher eine Strafe für mich war, tat ich jetzt mit voller Freude für sie. Ja ich schrieb sogar all ihren Bekannten und Verwandten jährlich einen Brief, in dem ich versuchte, sie etwas an unserem Leben teilhaben zu lassen. Sie selbst konnte ja all das nicht mehr tun.

Der gesundheitliche Zustand meiner Mutter war in den 12 Jahren erstaunlich stabil. Aber kurz nach ihrem 95. Geburtstag verweigerte sie immer öfter eine Mahlzeit und schlief noch mehr, als sie das eh schon tat. Sie verlor an Gewicht und eines Tages signalisierte sie mit fest zusammengepressten Lippen und Kopfschütteln sehr deutlich, dass sie ab jetzt gar nichts mehr essen und trinken will.

Zwei Tage darauf starb sie. Genau so, wie sie es sich (und ich es mir) immer gewünscht hatte: ohne Arzt, ohne Schläuche, ohne Medikamente – nur unterstützt mit etwas Homöopathie. Ich konnte bei ihr sitzen, sie halten und begleiten und nach dem letzten Atemzug das Fenster öffnen und warten, bis ich spürte, dass ihre Seele gegangen war. Ich war ganz ruhig. Ich spürte, alles war richtig und gut.

Im Dezember 2017 habe ich diesen Text in der Druckausgabe der Zeitung OHA veröffentlicht. Damals endete der Text mit dem folgenden Absatz:

„Und nun sitze ich hier mit der neuesten Broschüre des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zum Thema Patientenverfügung. Kein kleines Blatt mehr wie damals, sondern ein Heft mit über 40 Seiten, mit Erklärungen und Textbausteinen. Ob lebenserhaltende Maßnahmen, Schmerz- und Symptombehandlung, künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr usw. Jeweils aus zwei oder drei möglichen Willensbekundungen soll ich wählen, wie meine Behandlung gegebenenfalls ausschauen soll oder nicht. Mein Verstand sagt mir, ich will all das natürlich nicht: Wiederbelebung, künstliche Beatmung, Dialyse … Wenn ich z. B. nach einem Schlaganfall so lange ohne Behandlung irgendwo gelegen bin wie meine Mutter, dann soll man mich doch bitte sterben lassen.

Aber ich habe all die hier geschilderten Erfahrungen hinter mir und deshalb kann ich keine Patientenverfügung machen, an die sich meine Angehörigen zwingend halten müssen. So ein Papier kann in meinen Augen nur eine Hilfestellung für sie sein, wenn sie im Notfall für mich entscheiden müssen. Denn das Wichtigste ist, dass sie dann auch selbst mit ihrer Entscheidung zurechtkommen.“


Inzwischen wurde die Vorlage für eine Patientenverfügung weiterentwickelt und ich habe auch eines dieser Formulare als Ergänzung zur Vorsorgevollmacht ausgefüllt, ohne dass dies noch mit besonderen Emotionen verbunden war.

Was allerdings viele Emotionen in mir ausgelöst hat und immer noch auslöst, wenn ich darüber nachdenke, sind die Jahre der ausgerufenen Corona-Pandemie.

  • Eine Zeit mit einschneidenden Maßnahmen, die auch meine Mutter und mich betroffen hätten.
  • Eine Zeit, in der Altenheime zu Gefängnissen wurden – die Bewohner durften sie nicht verlassen und kein Besucher sie betreten.
  • Eine Zeit, in der viele Menschen alleine sterben mussten.
  • Eine Zeit, in der ich tatsächlich froh darüber war, dass meine Mutter bereits unter unserem Baum im Friedwald liegt.

Renate Müller, Schongau